[481][A 758][Umbildung des Charisma.]a[481] In A geht der Überschrift voran: Kapitel X. In A folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 479.
[481] In A geht der Überschrift voran: Kapitel X. In A folgt nach der Überschrift eine Inhalts- und Seitenübersicht. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 479.
Auch die bürokratische Rationalisierung kann, wie wir sahen,
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gegenüber der Tradition eine revolutionäre Macht ersten Ranges sein und ist es oft gewesen. Aber sie revolutioniert durch technische Mittel, im Prinzip – wie namentlich jede Umgestaltung der Ökonomik es tut – „von außen“ her, die Dinge und Ordnungen zuerst, dann von da aus die Menschen, die letzteren im Sinne der Verschiebung ihrer Anpassungsbedingungen und eventuell der Steigerung ihrer Anpassungsmöglichkeiten an die Außenwelt durch rationale Zweck- und Mittelsetzung. Das Charisma dagegen ruht in seiner Macht auf Offenbarungs- und Heroenglauben, auf der emotionalen Überzeugung von der Wichtigkeit und dem Wert einer Manifestation religiöser, ethischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, politischer oder welcher Art immer, auf Heldentum[,] sei es der Askese oder des Krieges, der richterlichen Weisheit[,] der magischen Begnadung oder welcher Art sonst. Dieser Glaube revolutioniert „von innen heraus“ die Menschen und sucht Dinge und Ordnungen nach seinem revolutionären Wollen zu gestalten. Der Gegensatz will freilich richtig verstanden sein. Bei aller abgrundtiefen Verschiedenheit der Sphären, in denen sie sich bewegen, sind religiöse, künstlerische, ethische, wissenschaftliche und alle anderen, insbesondere auch politisch oder sozial organisatorische „Ideen“ entstanden, psychologisch angesehen, auf wesentlich gleiche Art. Es ist ein „der Zeit dienendes“, subjektives „Werten“, welches die einen dem „Verstande“, die andern der „Intuition“ (oder wie immer man sonst scheidet) zuweisen möchten:[481] Siehe den Text „Bürokratismus“, oben, S. 233 f.; dort (S. 234 mit Anm. 58) mit einem Vorverweis.
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die mathematische „Phantasie“ etwa eines WeierstraßA: möchte:
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A: Weyerstraß
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ist „Intuition“ genau im gleichen Sinn wie diejenige irgendeines Künstlers, [482]Propheten und – Demagogen: nicht da liegt der Unterschied. (Und übrigens beiläufig auch in der uns hier nicht angehenden „Wert“-Sphäre treffen sie sämtlich darin überein: daß sie alle – auch die künstlerische Intuition, – um sich zu objektivieren, also um überhaupt ihre Realität zu bewähren, ein „Ergreifen“ oder, wenn man will, Ergriffenwerden von Forderungen des „Werks“ bedeuten, und nicht ein subjektives „Fühlen“ oder „Erleben“ wie irgend ein anderes.) Er liegt, das ist zum Verständnis der Bedeutung des „Rationalismus“ nachdrücklich festzustellen, überhaupt nicht in der Person oder in den seelischen „Erlebnissen“ [A 759]des Schöpfers der Ideen oder „Werke“. Sondern in der Art, wie sie von den Beherrschten oder Geführten, innerlich „angeeignet“, von ihnen „erlebt“ werden. Wir haben früher gesehen, Karl Weierstraß gehörte zu den maßgeblichen Mathematikern an der Universität Berlin, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Berliner Mathematik einen weltweit guten Ruf verschafften. Weierstraß trat mit bahnbrechenden theoretisch-methodischen Überlegungen hervor, vor allem zur Funktionentheorie, und gilt als Begründer der modernen, strengen Beweismethode in der Analysis.
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daß die Rationalisierung so verläuft, daß die breite Masse der Geführten lediglich die äußeren, technischen, für ihre Interessen praktischen Resultanten sich aneignen oder ihnen sich anpassen (so wie wir das Einmaleins „lernen“, und nur allzuviele Juristen die Rechtstechnik), während der „Idee“-Gehalt ihrer Schöpfer für sie irrelevant bleibt. Dies will der Satz besagen: daß die Rationalisierung und die rationale „Ordnung“ „von außen“ her revolutionieren, während das Charisma, wenn es überhaupt seine spezifischen Wirkungen übt, umgekehrt von innen, von einer zentralen „Metanoia“ der Gesinnung der Beherrschten her, seine revolutionäre Gewalt manifestiert. Während die bürokratische Ordnung nur den Glauben an die Heiligkeit des immer Gewesenen, die Normen der Tradition, durch die Fügsamkeit in zweckvoll gesatzte Regeln und in das Wissen ersetzt, daß sie, wenn man die Macht dazu hat, durch andere zweckvolle Regeln vertretbar, also nichts „Heiliges“ sind, – sprengt das Charisma in seinen höchsten Erscheinungsformen Regel und Tradition überhaupt und stülpt alle Heiligkeitsbegriffe geradezu um. Statt der Pietät gegen das seit alters Übliche, deshalb Geheiligte, erzwingt es die innere Unterwerfung unter das noch nie Dagewesene, absolut Einzigartige, deshalb Göttliche. Es ist in diesem rein empirischen und wertfreien Sinn allerdings die spezifisch „schöpferische“ revolutionäre Macht der Geschichte. [482] Der Verweis bezieht sich auf Weber, Kategorien, S. 292–294. Der Aufsatz war im November 1913 in der Kulturzeitschrift „Logos“ erschienen. Denkbar wäre auch ein Bezug auf Weber, Die Wirtschaft und die Ordnungen, S. 4 f. (WuG1, S. 374–376). Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 474.
[483]Wenn sowohl die charismatische wie die patriarchale Gewalt auf persönlicher Hingabe und persönlicher Autorität an und von „natürlichen Leitern“ im Gegensatz zu den „gesetzten“ Leitern der bürokratischen Ordnung beruhen, so ist diese Pietät und Autorität in beiden Fällen doch sehr verschieden. Der Patriarch genießt sie, wie der Beamte, als Träger von Ordnungen, die nur nicht, wie Gesetze und Reglements der Bürokratie, menschlich zweckvoll gesetzten, sondern von unvordenklichen Zeiten her unverbrüchlich gültigen Charakters sind. Der Träger des Charisma genießt sie kraft einer in seiner Person verkörpert gedachten Sendung, welche revolutionären, alle Rangordnung der Werte umkehrenden, Sitte, Gesetz und Tradition umstoßenden Charakters, wenn nicht unbedingt und immer sein muß, so jedenfalls in ihren höchsten Ausprägungen gewesen ist. Wie labil der Bestand einer patriarchalen Gewalt in der Hand ihres konkreten Trägers auch sein möge, in jedem Fall ist sie als solche diejenige soziale Herrschaftsstruktur, welche im Gegensatz zu der aus der Not und Begeisterung außerordentlicher Situationen geborenen charismatischen Struktur dem Alltage mit seinen Anforderungen dient und, wie der Alltag, in allem Wechsel der Träger und des Umkreises dennoch in ihrer Funktion perenniert. Beiden Strukturformen sind an sich alle Lebensgebiete zugänglich: Patriarchal, nach Geschlechtern unter Führung des Familienhauptes fochten viele der altgermanischen Heere. Patrimonial organisiert waren die alten Kolonenheere orientalischer Monarchen
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und die unter ihren „seniores“ ausziehenden Hintersassenkontingente des fränkischen Heeres.[483] So z. B. die Heere der mesopotamischen Könige; vgl. oben, S. 264 f.
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Die religiöse Funktion des Hausherrn und der Hausgottesdienst perenniert Vgl. dazu die Erläuterung, oben, S. 264 f., Anm. 40.
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neben dem amtlichen Gemeindekult einerseits und den großen, der Sache nach fast immer revolutionären Bewegungen charismatischen Prophetentums. Neben dem Friedenshäuptling, der die ökonomischen Alltagsgeschäfte der Gemeinschaft besorgt, und neben dem Volksaufgebot in Fällen eines gemeinsamen Krieges aber steht – bei Germanen wie Indianern[483] Zu erwarten wäre: perennieren
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– der charismatische Kriegs[484]held, der mit freiwilliger Gefolgschaft auszieht, und auch im offiziellen Volkskriege ersetzt die normalen Friedensautoritäten sehr oft der ad hoc auf Grund seiner Bewährung als Held in solchen Aventuren zum „Herzog“ ausgerufene Kriegsfürst. Auf politischem wie religiösem Gebiet sind es die traditionellen, gewohnten Alltagsbedürfnisse, welchen die auf Gewöhnung, Respekt vor der Tradition, Eltern- Zu der Aufteilung der Funktionen bei den Irokesen vgl. oben, S. 471, Anm. 27. Wie antike Autoren berichten, fehlte bei vielen germanischen Völkerschaften ein einheitliches Führungsamt. Während in Friedenszeiten die Gesamtheit der Gaufürsten (principes) [484]herrschte, wurde nur im Kriegsfall ein besonders fähiger Kriegsführer aus ihren Reihen gewählt: der Herzog (lat. „dux“, altsächsisch „heritogo“). Dieser trat dann für die Zeit des Krieges an die Spitze der Völkerschaft. Vgl. dazu Brunner, Heinrich, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 1, 2. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1906, S. 170 f. und 184; dort auch die entsprechenden Nachweise.
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und Ahnenpietät und persönlicher Dienertreue ruhende patriarchalische Struktur dient, im Gegensatz zu der revolutionären Rolle des Charisma. So steht es auch auf ökonomischem Gebiet. Die Wirtschaft als geordneter perennierender Ablauf von Handlungen zum Zweck [A 760]der planmäßigen Vorsorge für die Gewinnung des materiellen Güterbedarfs ist die spezifische Heimat patriarchaler und[,] mit ihrer zunehmenden Rationalisierung zum „Betrieb“, bürokratischer Struktur der Herrschaft. Dennoch ist auch sie keineswegs charismafremd. Charismatische Züge zeigt unter primitiven Verhältnissen sehr häufig ein damals wichtiger, mit zunehmender materieller Kultur aber abnehmend bedeutsamer Zweig der Bedarfsversorgung: die Jagd, welche dem Kriege ähnlich organisiert ist und auch später noch lange mit ihm ganz äquivalent behandelt wird (so noch in den assyrischen Königsinschriften).[484]A: Eltern
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Aber auch auf dem Gebiet spezifisch kapitalistischer Wirtschaft findet sich der Antagonismus von Charisma und Alltag, nur daß hier nicht Charisma und „Haus“, sondern Charisma und „Betrieb“ einander gegenüberstehen: wenn Henry Villard zum Zweck eines auf der Börse durchgeführten Handstreichs auf den Aktienbesitz der Northern Pacific Railroad den berühmten „blind pool“ arrangierte, sich vom Publikum ohne Angabe des Zwecks 50 Millionen $ Vgl. dazu die Erläuterung oben, S. 470, Anm. 26.
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zu einer nicht näher zu bezeichnenden Unternehmung erbat und auf sein Renommee hin ohne Sicherheitsstellung geliehen erhielt,A: £
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Wiederholung des Anmerkungsindex „8“ in MWG digital gestrichen.
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so sind diese und ähnliche Erscheinungen [485]eines grandiosen Beutekapitalismus und einer ökonomischen Beutegefolgschaft in ihrer ganzen Struktur, ihrem „Geist“ nach, grundverschieden von der rationalen Leitung eines regulären großkapitalistischen „Betriebs“, gleichartig dagegen den ganz großen Finanz- und Kolonialausbeutungsunternehmungen und dem mit Seeraub und Sklavenjagd vermengten „Gelegenheitshandel“, wie es sie seit den ältesten Zeiten gegeben hat. Das Verständnis der Doppelnatur dessen, was man „kapitalistischen Geist“ nennen kann, und ebenso das Verständnis der spezifischen Eigenart des modernen, „berufsmäßig“ bürokratisierten Alltagskapitalismus ist geradezu davon abhängig, daß man diese beiden, sich überall verschlingenden, im letzten Wesen aber verschiedenen Strukturelemente, begrifflich scheiden lernt. – Um die Kontrolle über die mit seinen eigenen Eisenbahnbaugesellschaften konkurrierende „Northern Pacific Railroad Company“ übernehmen zu können, kaufte Henry Villard von Dezember 1880 bis Januar 1881 so viele Aktien der „Northern Pacific“, wie es [485]ihm zunächst aus eigenen Mitteln möglich war. Im Frühjahr 1881 richtete er ein ansonsten geheim gehaltenes Rundschreiben an befreundete Geschäftsleute, in dem er sie ohne Angabe eines Verwendungszwecks bat, für eine Summe von insgesamt 8 Mio. $ zu subskribieren. Mit Hilfe dieses rechtlich umstrittenen „blind pool“, in den 35 Personen bzw. Banken einzahlten und dabei angeblich allein auf den guten Ruf Villards an der New Yorker Börse vertrauten, konnte er im September 1881 die Präsidentschaft der „Northern Pacific“ übernehmen und sie mit den von ihm bereits kontrollierten Eisenbahnbaugesellschaften zur Holding „Oregon and Transcontinental Company“ vereinigen, die über ein Kapital von etwa 50 Mio. $ (nicht £, wie es im überlieferten Text hieß) verfügte. (Vgl. Buss, Dietrich G., Henry Villard: A Study of Transatlantic Investments and Interests, 1870–1895. – Ann Arbor, London: University Microfilms International 1976, S. 120–140). Max Weber war über die Vorgänge wohl bestens unterrichtet, weil sein Vater persönlich mit Villard bekannt war und 1883 sogar zur Eröffnung der Northern Pacific-Strecke eingeladen war. Vgl. Roth, Guenther, Max Weber in Erfurt, Vater und Sohn, in: Berliner Journal für Soziologie, Band 5, 1995, S. 287–299, hier: S. 294 f., 299.
Der Bestand einer „rein“ charismatischen Autorität im hier gebrauchten Sinn des Wortes
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bedeutet, obwohl sie, je reiner sie ihren Charakter wahrt, desto weniger als eine „Organisation“ im gewöhnlichen Sinn einer Ordnung von Menschen und Dingen nach dem Prinzip von Zweck und Mittel erfaßt werden kann, – dennoch nicht etwa einen Zustand amorpher Strukturlosigkeit, sondern ist eine ausgeprägte soziale Strukturform mit persönlichen Organen und einem der Mission des Charismaträgers angepaßten Apparat von Leistungen und Sachgütern. Siehe den Text „Charismatismus“, oben, S. 460–466, und oben, S. 482 f.
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Die persönlichen Hilfskräfte und in ihnen [486]zugleich eine spezifische Art von charismatischer Aristokratie innerhalb der Gruppe stellt eine, nach dem Prinzip des Jüngertums und der Gefolgschaftstreue zusammengeschlossene und ebenfalls nach persönlicher charismatischer Qualifikation ausgelesene engere Gruppe von Anhängern. Die Sachgüterleistungen, obwohl formell freiwillig, satzungslos, unstet, gelten in einem den Bedarf deckenden Maße doch als Gewissenspflicht der charismatisch Beherrschten und werden nach Bedarf und Leistungsfähigkeit dargeboten. Die Gefolgschaft oder Jüngerschaft empfängt ihre materiellen Unterhaltsmittel und ihre soziale Position[,] je mehr die Reinheit der charismatischen Struktur gewahrt ist, desto weniger in Gestalt von Pfründen, Gehältern oder irgend einer Art von Entgelt oder Lohn, Titeln oder geordneten Rangverhältnissen. Sondern materiell, soweit der Unterhalt des Einzelnen nicht anderweit sichergestellt ist, in autoritär geleiteter Gemeinschaft der Nutzung jener Güter, welche dem Meister, je nachdem, als Ehrengeschenk, Beute, Stiftung zufließen, er teilt sie mit ihnen ohne Abrechnung und Vertrag, eventuell also haben sie Anspruch auf Tischgemeinschaft, auf Ausstattungen und Ehrengeschenke, die er ihnen zuwendet, ideell auf Anteilnahme an der sozialen, politischen, religiösen Schätzung und Ehre, die ihm selbst bezeugt wird. Jede Abweichung davon trübt die Reinheit der charismatischen Struktur und führt in die Bahnen anderer Strukturformen. Vgl. dazu die Ausführungen über Sohm, Kirchenrecht, in der Einleitung, oben, S. 38–41.
Das Charisma ist also, neben der Hausgemeinschaft, der zweite, von ihr verschiedene, große historische Träger des Kommunismus, wenn wir darunter [A 761]hier das Fehlen der „Rechenhaftigkeit“ beim Güterverbrauch und nicht die rationale Organisation der Güterproduktion für eine – irgendwie – gemeinsame „Rechnung“ („Sozialismus“) verstehen wollen. Aller historisch überhaupt bekannte „Kommunismus“ in diesem Sinn hat seine Stätte entweder auf traditionellem und das heißt patriarchalem Boden (Hauskommunismus), und nur in dieser Form ist er eine Erscheinung des Alltags gewesen und ist es noch, oder er ruht auf dem außeralltäglichen Boden der charismatischen Gesinnung und ist dann, wenn voll durchgeführt, entweder 1. Lager- und Beutekommunismus oder 2. Liebeskommunismus des Klosters mit seinen Abarten und seiner Verstümmelung zur „caritas“ und zum Almosen. Der Lager- und Beutekommunismus (in verschiedener Reinheit der Durchführung) findet sich in den charismatischen Kriegsorganisationen aller Zeiten, von dem Räuberstaat [487]der liparischen
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Inseln[487]A: ligurischen
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angefangen bis zu der Organisation des Islam unter dem Khalifen Omar[487] Von ca. 575 bis 252 v. Chr. waren die liparischen Inseln – eine Sizilien vorgelagerte Inselgruppe – griechische Kolonie. Unter dem ständigen Druck militärischer Bedrohung bauten die Kolonisten eine Kriegsflotte auf, die auch Kaperei betrieb. Das Gemeinwesen galt in der zeitgenössischen Literatur wegen des gemeinsamen Vermögens, Bodenbesitzes und der gemeinsamen Mahlzeiten als kommunistisch. Alle Erträge aus Landwirtschaft und Kaperei wurden „im Geiste der kriegerischen Bruderschaft“ zu gleichen Teilen unter der Bevölkerung aufgeteilt. Vgl. das Kapitel „Der Kommunistenstaat auf Lipara“, in: Pöhlmann, Robert von, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, 2 Bände, 2. Aufl. – München: C. H. Beck 1912, hier: Band 1, S. 44–51, Zitat: S. 49 (hinfort: v. Pöhlmann, Soziale Frage I, II), und Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 681. – Die im Text der Erstausgabe überlieferte Verschreibung „ligurische Inseln“ wurde emendiert; vgl. dazu auch die von Weber autorisierte Schreibweise in Weber, Streit, S. 445.
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und den kriegerischen Orden der Christenheit Kalif Omar I. organisierte die arabisch-muslimischen Truppen, indem er sie in Korps unterteilte und ihnen feste Militärlager zuwies, wo sie mit ihren Familien lebten. In den Feldzügen des Kalifen, der 635 Damaskus, 639–641 Ägypten und 640–644 Persien eroberte, wurde bis zur Schlacht von Midian die Anweisung des Propheten Mohammeds befolgt, die Kriegsbeute zu vier Fünfteln unter den Kriegern zu verteilen und den fünften Teil den Verwandten Mohammeds zu überlassen sowie zur Unterstützung von Armen und Waisen zu verwenden. Die Anweisung betraf nur bewegliche Beute, da der Erwerb von Grundbesitz den Soldaten in den Eroberungsgebieten generell verboten war. Vgl. v. Kremer, Culturgeschichte des Orients (wie oben, S. 384, Anm. 16), S. 71 ff., und Weil, Gustav, Geschichte der Chalifen, Band 1. – Mannheim: Friedrich Wassermann 1846, S. 76–78.
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und des japanischen Buddhismus. Gemeint sind Ritterorden, wie z. B. der Templer-, Johanniter- und der Deutsche Orden. Sie wurden im Zusammenhang mit der Kreuzzugsbewegung im 12. Jahrhundert gegründet oder – falls sie schon vorher bestanden – in kriegerische Orden zum Schutz der Pilger und zur Verteidigung des Heiligen Landes umgewandelt. Neben die Einhaltung der Mönchsgelübde trat – zuerst bei den Templern – eine strenge Lager- und Befehlsordnung. Nach dieser durfte kein Bruder „ohne Erlaubnis angreifen oder aus dem Gliede reiten“. (Vgl. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst III (wie oben, S. 275, Anm. 67), S. 286 f., 306 f.). Bernhard von Clairvaux hatte den Templern in der Regel „De laude novae militiae“ den Gemeinbesitz und die „vita communis“ vorgeschrieben.
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Der Liebeskommunismus hat in irgendeiner Form an der Spitze aller Religionen gestanden, lebt innerhalb der berufsmäßigen Gottesgefolgschaft: des Mönchtums, fort und findet sich in den zahlreichen pietistischen (La[488]badie) Vom 10. bis zum 16. Jahrhundert unterhielten die großen buddhistischen Klöster in Japan zu ihrem Schutz eigene Armeen von Mönchssoldaten. Diese hießen „sōhei“. Vgl. Haas, Hans, Die Religionen der Japaner, 2. Der Buddhismus, in: Die Religionen des Orients und die altgermanische Religion (Die Kultur der Gegenwart, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3,1), 2. Aufl. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1913, S. 217–242, hier: S. 224, und dessen Erwähnung in Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 445 f. mit Anm. 52.
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und anderen hochgespannten religiösen Sondergemeinschaften. Sowohl die Erhaltung erster Heldengesinnung wie erster Heiligkeit erscheint ihren genuinen Vertretern an die Konservierung der kommunistischen Grundlage und an das Fehlen des Strebens nach individuellem Sonderbesitz geknüpft. Und mit Recht: das Charisma ist eine prinzipiell außeralltägliche und deshalb notwendig außerwirtschaftliche Macht, alsbald in seiner Virulenz gefährdet, wenn die Interessen des ökonomischen Alltags zur Übermacht gelangen, wie dies überall zu geschehen droht: die „Präbende“[488] Gemeint ist die durch Separation von der reformierten Kirche der Niederlande 1668 im wallonischen Middelburg von dem Franzosen Jean de Labadie begründete, radikale pietistische Gemeinde, die zunächst etwa 50 Personen umfaßte und sich als eine mystisch inspirierte, streng asketische klösterliche Hausgemeinschaft nach urchristtichem Vorbild organisierte. Als Beweis des lebendigen und wahren Glaubens wurde die kommunistische Gütergemeinschaft gefordert. Die Gruppe existierte in Westfriesland bis 1744. Vgl. Ritschl, Albrecht, Geschichte des Pietismus, Band 1. – Bonn: Adolph Marcus 1880, S. 220 ff.
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– das an Stelle der alten kommunistischen Versorgung aus den gemeinsamen Vorräten tretende zugemessene „Deputat“ –, deren Entstehung hier ihre eigentlichste Stätte hat, ist der erste Schritt dazu. Mit allen Mitteln suchen die Vertreter des genuinen Charisma dieser Zersetzung Schranken zu ziehen. Alle spezifischen Kriegerstaaten, wie in typischer Art Sparta, behielten Reste des charismatischen Kommunismus bei und suchten den Helden vor der „Versuchung“ durch die Sorge um Besitz, rationalen Erwerb, Familiensorge ebenso zu bewahren, wie die religiösen Orden es tun. Der Ausgleich zwischen diesen Resten der alten charismatischen Prinzipien und den individuell-ökonomischen, mit der Präbendalisierung einsetzenden und beständig an die Türe pochenden Interessen vollzieht sich auf der verschiedensten Basis. Immer aber ist die schließlich eintretende schrankenlose Freigabe von Familiengründung und Erwerb das Ende der Herrschaft des genuinen Charisma. Nur die gemeinsame Gefahr des Feldlagers oder die Liebesgesinnung weltfremder Jüngerschaft hält den Kommunismus zusammen, und nur dieser wiederum garantiert die Reinheit des Charisma gegenüber den Interessen des Alltags. [488]A: „Präbende“,
Auf diesem Wege von einem stürmisch-emotionalen wirtschaftsfremden Leben zum langsamen Erstickungstode unter der Wucht der materiellen Interessen befindet sich aber jedes Charisma in jeder [489]Stunde seines Daseins und zwar mit jeder weiteren Stunde in steigendem Maße.
Die Schöpfung einer charismatischen Herrschaft in dem geschilderten „reinen“ Sinn ist stets das Kind ungewöhnlicher äußerer, – speziell politischer oder ökonomischer oder innerer seelischer, namentlich religiöser – Situationen oder beider zusammen, und entsteht aus der einer Menschengruppe gemeinsamen, aus dem Außerordentlichen geborenen Erregung und aus der Hingabe an das Heroentum gleichviel welchen Inhalts. Daraus allein schon folgt: in ungebrochener Macht, Einheitlichkeit und Stärke wirkt sich sowohl der Glaube des Trägers selbst und seiner Jünger an sein Charisma, – sei dies nun prophetischen oder welchen Inhalts sonst – wie die gläubige Hingabe derjenigen, an welche er sich gesendet fühlt, an ihn und seine Sendung regelmäßig nur in statu nascendi aus. Flutet die Bewegung, welche eine charismatisch geleitete Gruppe aus dem Umlauf des Alltags heraushob, in die Bahnen des Alltags zurück, so wird zum mindesten die reine Herrschaft des Charisma [A 762]regelmäßig gebrochen, ins „Institutionelle“ transponiert und umgebogen, und dann entweder geradezu mechanisiert oder unvermerkt durch ganz andere Strukturprinzipien zurückgedrängt oder mit ihnen in den mannigfachen Formen verschmolzen und verquickt, so daß sie dann eine faktisch untrennbar mit ihnen verbundene, oft bis zur Unkenntlichkeit entstellte, nur für die theoretische Betrachtung rein herauszupräparierende Komponente des empirischen historischen Gebildes darstellt.
Die „reine“ charismatische Herrschaft ist also in einem ganz spezifischen Sinne labil, und alle ihre Alterationen haben im letzten Grunde ein und dieselbe Quelle. Normalerweise der Wunsch des Herrn selbst, stets der seiner Jünger und am meisten die Sehnsucht der charismatisch beherrschten Anhänger geht überall dahin: das Charisma und die charismatische Beglückung der Beherrschten aus einer einmaligen, äußerlich vergänglichen freien Gnadengabe außerordentlicher Zeiten und Personen in ein Dauerbesitztum des Alltags zu verwandeln. Damit wandelt sich aber unerbittlich der innere Charakter der Struktur. Einerlei ob aus der charismatischen Gefolgschaft eines Kriegshelden ein Staat, aus der charismatischen Gemeinde eines Propheten, Künstlers, Philosophen, ethischen oder wissenschaftlichen Neuerers eine Kirche, Sekte, Akademie, Schule, aus einer charismatisch geleiteten, eine Kulturidee verfolgenden Gefolg[490]schaft eine Partei oder auch nur ein Apparat von Zeitungen und Zeitschriften wird, – stets ist die Existenzform des Charisma nun den Bedingungen des Alltags und den ihn beherrschenden Mächten, vor allem: den ökonomischen Interessen ausgeliefert. Stets ist dies der Wendepunkt, mit welchem aus charismatischen Gefolgsleuten und Jüngern zunächst – wie in der „trustis“ des fränkischen Königs – durch Sonderrechte ausgezeichnete Tischgenossen des Herrn, dann Lehensträger, Priester, Staatsbeamte, Parteibeamte, Offiziere, Sekretäre, Redakteure und Herausgeber, Verleger, welche von der charismatischen Bewegung leben wollen, oder Angestellte, Lehrer oder andere berufsmäßige Interessenten, Pfründenbesitzer, Inhaber patrimonialer Ämter oder dergleichen werden. Die charismatisch Beherrschten andererseits werden regulär zinsende „Untertanen“, steuernde Kirchen-, Sekten- oder Partei- oder Vereinsmitglieder, nach Regel und Ordnung zum Dienst gepreßte, abgerichtete und disziplinierte Soldaten oder gesetzestreue „Staatsbürger“. Die charismatische Verkündigung wird, auch wenn der Apostel mahnt: „den Geist nicht zu dämpfen“,
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unvermeidlich – je nachdem – Dogma, Lehre, Theorie oder Reglement oder Rechtssatzung oder Inhalt einer sich versteinernden Tradition. Zumal das Ineinanderfließen der beiden, in der Wurzel einander fremden und feindlichen Mächte: Charisma und Tradition, ist dabei regelmäßige Erscheinung. Begreiflicherweise: beider Macht ruht nicht auf plan- und zweckvoll geschaffenen Regeln und deren Kenntnis, sondern auf dem Glauben an die spezifische absolute oder relative, für den Beherrschten: – Kind, Klient, Jünger, Gefolgs- oder Lehensmann – schlechthin gültige Heiligkeit der Autorität konkreter Personen und auf der Hingabe an Pietätsbeziehungen und -pflichten ihnen gegenüber, die bei beiden stets eine irgendwie religiöse Weihe an sich tragen. Auch die äußeren Formen der beiden Herrschaftsstrukturen gleichen einander oft bis zur Identität. Ob die Tischgemeinschaft eines Kriegsfürsten mit seinem Gefolge „patrimonialen“ oder „charismatischen“ Charakter hat, kann man ihr äußerlich nicht ansehen, – es hängt von dem „Geist“ ab, der die Gemeinschaft beseelt, und das heißt: von dem Grunde, auf den sich die Stellung des Herrn stützt: durch Tradition geheiligte Autorität oder persönlicher Heldenglaube. Und der Weg [491]vom ersteren zum letzteren ist eben flüssig. Sobald die charismatische Herrschaft den sie vor der Traditionsgebundenheit des Alltags auszeichnenden akut emotionalen Glaubenscharakter und die rein persönliche Unterlage einbüßt, ist das Bündnis mit der Tradition zwar nicht das einzig Mögliche, wohl aber, zumal in Perioden mit unentwickelter Rationalisierung der Lebenstechnik, das unbedingt Nächstliegende, meist unvermeidlich. Damit scheint nun das Wesen des Charisma endgültig preis[A 763]gegeben und verloren, und das ist, soweit sein eminent revolutionärer Charakter in Betracht kommt, auch in der Tat der Fall. Denn es bemächtigen sich seiner nunmehr – und dies ist der Grundzug dieser typisch sich wiederholenden Entwicklung – die Interessen aller in ökonomischen oder sozialen Machtstellungen Befindlichen an der Legitimierung ihres Besitzes durch Ableitung von einer charismatischen, also heiligen, Autorität und Quelle. Statt also, seinem genuinen Sinn gemäß, allem Traditionellen oder auf „legitimem“ Rechtserwerb Ruhenden gegenüber revolutionär zu wirken, wie im status nascendi, wirkt es nun seinerseits gerade umgekehrt als Rechtsgrund „erworbener Rechte“. Und, in eben dieser ihm innerlich wesensfremden Funktion wird es nun Bestandteil des Alltags. Denn das Bedürfnis, dem es damit entgegenkommt, ist ein ganz universelles. Vor allem aus einem allgemeinen Grunde. [490] Vgl. den ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher 5, 19.
Die frühere Analyse der Alltagsgewalten der bürokratischen, patriarchalen und feudalen Herrschaft hatte nur erörtert:
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in welcher Weise diese Gewalten funktionieren. Aber die Frage: nach welchen Merkmalen der in der Hierarchie höchststehende, bürokratische oder patriarchalische Gewalthaber selbst ausgelesen wird, ist damit noch nicht erledigt. Das Haupt eines bürokratischen Mechanismus könnte ja denkbarerweise auch seinerseits ein nach irgendwelchen generellen Normen in seine Stellung einrückender höchster Beamter sein. Aber es ist nicht zufällig, daß er dies meist nicht, wenigstens nicht nach den gleichen Normen, wie die ihm hierarchisch unterstehenden Beamten ist. Gerade der reine Typus der Bürokratie: eine Hierarchie von angestellten Beamten, erfordert irgend eine Instanz, die ihre Stellung nicht ihrerseits auch wieder auf „Anstellung“ im [492]gleichen Sinn wie die anderen gründet. Die Person[491] Zur bürokratischen Herrschaft siehe den Text „Bürokratismus“, oben, S. 157–234, zur patriarchalen die Anfangspassage des Textes „Patrimonialismus“, oben, S. 247–257, und zur feudalen Herrschaft den Text „Feudalismus“, oben, S. 380–417. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 477.
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des Hausgewalthabers ergibt sich in der Kleinfamilie von Eltern und Kindern von selbst und ist in den Großfamilien regelmäßig durch eindeutige Regeln der Tradition festgelegt. Nicht aber ohne weiteres die des Hauptes eines patriarchalen Staatswesens oder einer Lehenshierarchie. Zu erwarten wäre: Position; Hinweis in MWG digital hinzugefügt.
Und auf der anderen Seite ist offenbar das grundlegende erste Problem, vor dem die charismatische Herrschaft steht, wenn sie zu einer perennierenden Institution sich umgestalten will, ebenfalls gerade die Frage des Nachfolgers des Propheten, Helden, Lehrers, Parteihaupts. Gerade an ihr beginnt unvermeidlich zuerst die Einmündung in die Bahn von Satzung und Tradition.
Zunächst kann, da es sich um Charisma handelt, keine Rede von einer freien „Wahl“ des Nachfolgers sein, sondern wiederum nur von einem „Anerkennen“, daß das Charisma bei dem Prätendenten der Nachfolge vorhanden sei. Entweder also muß auf die Epiphanie eines persönlich seine Qualifikation erweisenden Nachfolgers oder irdischen Stellvertreters oder Propheten geharrt werden: – die Buddhaverkörperungen und Mahdis sind spezifische Beispiele dafür. Aber eine solche neue Inkarnation fehlt oft oder ist sogar aus dogmatischen Gründen gar nicht zu erwarten. So für Christus und ursprünglich für Buddha. Nur der genuine (südliche) Buddhismus hat tatsächlich die radikale Konsequenz dieser Auffassung gezogen: die Jüngerschaft Buddhas blieb hier nach seinem Tode Bettelmönchgemeinschaft mit einem Minimum von irgendwelcher Organisation und Vergesellschaftung und der Wahrung des Charakters einer möglichst amorphen Gelegenheitsvergemeinschaftung. Wo die alte Ordnung der Pâli-Texte
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wirklich durchgeführt war – und dies war in Indien und Ceylon vielfach der Fall –[492] Gemeint ist der sog. Pāli-Kanon, eine europäische und auch von Max Weber in seinen religionssoziologischen Studien verwendete Bezeichnung für die in Pāli verfaßten heiligen Schriften der Theravāda-Schule des südlichen Buddhismus. Der sog. „Dreikorb“ (Tipiṭaka) umfaßt die Ordensregeln (Vinayapiṭaka), die Reden des Buddha (Suttapiṭaka) und die zuletzt angefügte Metaphysik (Abhidhammapiṭaka). Vgl. Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 329 mit Anm. 94, sowie Franke, Otto, Pāli und Sanskrit in ihrem historischen und geographischen Verhältnis auf Grund der Inschriften und Münzen. – Straßburg: Karl J. Trübner 1902, S. 1 ff.
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, da fehlt nicht nur ein Patriarch, sondern auch eine feste Verbindung des Einzelnen mit einer konkre[493]ten Klostervergesellschaftung.[492] Gedankenstrich fehlt in A.
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Die „Diözesen“ sind nur ein geographischer Rahmen für die bequemere Abgrenzung der Gebiete, innerhalb deren sich die Mönche zu den wenigen gemeinsamen Zeremonien – denen jeder „Kultus“ fehlt – zusammenfinden.[493] Max Weber stützt sich im folgenden auf Kern, Buddhismus (wie oben, S. 61, Anm. 72), S. 50–59, der den alten, südlichen Buddismus nach dem Tod Buddhas (ca. 4./5. Jahrhundert v. Chr.) als kaum organisierte Kirche beschrieben hatte. Im Mittelpunkt seiner Darstellung stand der einsam wandernde Bettelmönch, der sich nur während der Regenzeit an einem festen Ort aufhalten durfte. Kern bezweifelte den realhistorischen Hintergrund von überlieferten Patriarchenlisten der indischen und ceylonesischen Kirche (ebd., S. 331–346).
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Die „Beamten“ der Klöster sind auf Kleiderbewahrer und wenige ähnliche Funktionäre beschränkt, die Eigentumslosigkeit der Einzelnen sowohl wie der Gemeinschaft als solcher und die rein mäzenatische Bedarfsdeckung (durch Schenkungen und Bettel), [A 764]so weit durchgeführt, wie dies unter den Bedingungen des Alltags überhaupt möglich ist. Einen „Vorrang“ beim Sitzen und Reden gibt bei Zusammenkünften nur das Alter (als Mönch) und die Beziehung des Lehrers zum Novizen, der ihm als famulus dient. Ausscheiden ist jederzeit freigestellt und nur die Zulassung an höchst einfache Vorbedingungen (Lehrzeit, Leumunds- und Freiheitsattest des Lehrers und ein Minimum von Zeremonien) Mit „Diözese“ ist „sīmā“ (Pāli: „Grenze“) gemeint, die Bezeichnung für den Einflußbereich eines buddhistischen Klosterbezirkes, in dem die Mönche zusammenwohnen und die halbmonatlichen Uposatha-Feiern abhalten konnten. Diese Versammlungen bestanden aus wenigstens vier Personen des Kapitels und hatten die Verlesung bzw. Rezitation der Mönchsregeln sowie die „öffentliche Beichte“ der Mönche zum Inhalt (ebd., S. 13 f.). Hendrik Kern übersetzt „sīmā“ auch als „Kirchspiel“ oder „Mark“ (ebd., S. 62). Vgl. auch Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 357, 367, sowie die Erläuterungen des Bandherausgebers, ebd., S. 633.
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geknüpft. Eine eigentliche „Dogmatik“ fehlt, ebenso wie die Ausübung eines Schul- oder Predigtberufes. Die beiden halb legendären „Konzilien“ der ersten Jahrhunderte haben keine Nachfolge gehabt. Die Aufnahmezeremonie eines Anwärters in eine buddhistische Mönchsgemeinschaft in Indien beschreibt Hendrik Kern, Buddhismus (wie oben, S. 61, Anm. 72), S. 36 ff.: Es wurde überprüft, ob der Kandidat über Mönchsgewand und Bettelschale verfügt, dann mußte der Lehrer des Kandidaten diesen über Alter, Krankheiten und Lebensumstände („Bist du […] unabhängig? Hast du keine Schulden? Bist du kein königlicher Soldat? Hast du die Zustimmung deiner Eltern?“) befragen und vor der Mönchsversammlung ein Votum abgeben, das von Max Weber sog. „Leumunds- und Freiheitsattest“. Nach formeller Bitte des Kandidaten erfolgte die Aufnahme und seine Belehrung über die Mönchspflichten.
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Gemeint sind die Versammlungen der führenden Anhänger des Gautama Siddhârta, [494]die nach buddhistischer Überlieferung dazu dienten, die verstreut bewahrten Äußerungen des Buddha zu seiner Lehre und zur Ordensdisziplin zusammenzufassen und zu kanonisieren. Die „Konzile“ von Rājagṛha und Vaiçali sollen im Jahr nach Buddhas Tod sowie etwa hundert Jahre später (390 v. Chr.) stattgefunden haben. Die zeitgenössische Buddhismusforschung stellte die Existenz der Konzile in Frage. Max Weber folgt hier der vermittelnden Position von Oldenberg, Buddhistische Studien (wie oben, S. 61, Anm. 72), S. 624 f., Anm. 1, der den vollkommen fiktiven Charakter der „Konzile“ bestritt.
[494]Dieser hochgradig amorphe Charakter der Mönchsgemeinschaft hat sicherlich zum Verschwinden des Buddhismus in Indien stark beigetragen.
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Möglich war er überhaupt nur bei einer reinen Mönchsgemeinschaft und zwar einer solchen, bei welcher das individuelle Heil ausschließlich von dem Einzelnen selbst zu schaffen war. Denn bei jeder andersartigen Gemeinschaft gefährdet natürlich solches Verhalten und ebenso ein bloßes passives Harren auf eine neue Epiphanie den Zusammenhalt der charismatischen Gemeinde, welche nach dem leibhaftig gegenwärtigen Herrn und Leiter ruft. Mit dem Entgegenkommen gegenüber dieser Sehnsucht, einen Träger des Charisma dauernd in der eigenen Mitte zu besitzen, wird ein wichtiger Schritt in der Richtung der Veralltäglichung gemacht. Die stets erneute Inkarnation bewirkt eine Art von „Versachlichung“ des Charisma. Sein berufener Träger muß nun entweder systematisch nach irgendwelchen, sein Charisma verratenden Merkmalen, also immerhin nach „Regeln“, gesucht werden, wie – prinzipiell ganz nach Art des Apisstiers Der Buddhismus wurde mit der islamischen Eroberung Nordindiens Anfang des 13. Jahrhunderts nahezu vollständig aus Indien verdrängt. Mit der Zerstörung der Klöster und Handschriften der Lehrtexte wurden nach Webers Aussage die „eigentlichen Träger des organisierten religiösen Gemeinschaftslebens“ des indischen Buddhismus getroffen (vgl. Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 370). Kleine buddhistische Gemeinschaften existierten bis in das 15. Jahrhundert fort.
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– der neue Dalai Lama. Der Apisstier (altägyptisch: Ḥapi, „lebendiger Stier“) wurde im ägyptischen Memphis als Gott verehrt. Ein neuer Apisstier mußte den Anforderungen der Schriftgelehrten genügen und eine Reihe von Merkmalen aufweisen, zu denen in den antiken Quellen allerdings widersprüchliche Angaben existieren. Nach Herodot 3, 28 mußte der Stier schwarz sein, auf der Stirn einen viereckigen weißen Fleck, auf dem Rücken das Bild eines Adlers, im Schweif doppeltes Haar und unter der Zunge das Bild eines Käfers aufweisen. Der nach diesen Kriterien aufgefundene Stier wurde als Apis inthronisiert und im Apieion neben dem Tempel des Ortsgottes von Memphis Ptha verehrt.
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Oder es muß ein [495]anderes, angebbares, also ebenfalls nach Regeln bestimmbares Mittel zur Verfügung stehen, ihn herauszufinden. Dahin gehört zunächst der naheliegende Glaube, daß der Träger des Charisma selbst seinen Nachfolger, oder wenn er dem Sinne nach nur eine einmalige Inkarnation sein kann – wie Christus –, seinen irdischen Stellvertreter zu bezeichnen, Gemäß lamaistischer Auffassung ging frühestens 49 Tage nach dem Tod des Dalai Lama die in ihm inkarnierte Seele des Bodhisattva auf ein Kind über, das dann durch die Befragung von Orakeln aufgefunden wurde. Das als Wiedergeburt erkannte Kind wurde in ein Kloster in Lhasa gebracht, wo es verblieb, bis es im Alter von sieben bis acht Jah[495]ren als Mönch eingekleidet und als Dalai Lama inthronisiert wurde. Vgl. Grünwedel, Buddhismus (wie oben, S. 60, Anm. 71), S. 76, 78.
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qualifiziert sei. Die Kreation des eigenen Nachfolgers oder Stellvertreters durch den Herrn ist eine allen ursprünglich charismatischen Organisationen, prophetischen wie kriegerischen, sehr adäquate Form der Wahrung der Herrschaftskontinuität. Aber selbstverständlich bedeutet sie einen Schritt von der freien, auf persönlicher Eigengewalt des Charisma ruhenden Herrschaft nach der Seite der auf der Autorität der „Quelle“ ruhenden „Legitimität“ hin. Neben den bekannten religiösen Beispielen bewahrte die Form der Kreation der römischen Magistrate: Ernennung des eigenen Nachfolgers im Kommando aus der Reihe der Qualifizierten und Akklamation des zusammenberufenen Heeres, im Zeremoniell diese charismatischen Züge auch dann noch, als man das Amt, um seine Macht zu beschränken, an Fristen und an die vorherige Zustimmung („Wahl“) des Bürgerheeres in geordneten Formen band; und die Diktatorenernennung im Felde, Weber bezieht sich auf Matthäus 16, 18–19, wo die Einsetzung des Simon Petrus zum Nachfolger Jesu überliefert ist: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeine, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und will dir des Himmelsreichs Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.“
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in der Not, welche den Nichtalltagsmenschen forderte, blieb lange Zeit als charakteristisches Rudiment des alten „reinen“ Kreationstypus fortbestehen. Der aus der Heeresakklamation des siegreichen Helden als „Imperator“ erwachsene, mit der „lex de imperio“ nicht etwa zum Herrscher kreierte, Der römische „Dictator“ war ein außerordentlicher Magistrat mit Imperium ohne Kollegen und einer auf sechs Monate befristeten Amtszeit. Nach Mommsen, Römisches Staatsrecht II,13 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 158, wurde er auf Vorschlag eines Konsuls im Senat zum „Oberbefehlshaber der Gemeinde im Kriege“ ernannt. In seiner ursprünglichen Gestalt ist das Amt des Diktators nach 202 v. Chr. nicht mehr bezeugt.
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[496]sondern als zu Recht die Herrschaft prätendierend anerkannte Prinzipat in seiner spezifischsten Zeit Die Einschätzung der sog. „lex de imperio“ war unter Althistorikern umstritten. Weber spielt hier auf Johannes Kromayer an, der – gegen Theodor Mommsen (vgl. unten, Anm. 29) – die These vertrat, Augustus und seine Nachfolger hätten den militärischen [496]Oberbefehl, die prokonsularische Gewalt (imperium proconsulare), durch ein Gesetz (lex) der Bürgerversammlungen erhalten. Vgl. Kromayer, Johannes, Die rechtliche Begründung des Principats. – Marburg: R. Friedrich 1888, S. 34 ff., 46.
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kennt als „legitime“ Thronsukzession nur die Kollegen- und Nachfolgerdesignation, welche sich freilich regelmäßig in die Form der Adoption kleidet, Gemeint ist wohl die Zeit von der Herrschaft des Augustus bis zu den Soldatenkaisern des dritten Jahrhunderts. Weber folgt hier Mommsen, Römisches Staatsrecht II,23 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 840–843. Dieser betrachtete die Übernahme des militärischen Oberbefehls als entscheidende Voraussetzung für die „Creierung“ eines „princeps“. Diese habe in der Zeit des „alten Principats“ (bis zur Herrschaft des Kaisers Carus 282/83) die Aufforderung des Heeres, sich „imperator“ zu nennen, ebenso vorausgesetzt wie die Bestätigung des Senats, der allerdings einen vom Heer bereits akklamierten „imperator“ faktisch nicht abweisen konnte.
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wie umgekehrt in der römischen Hausgewalt zweifellos von diesen Gepflogenheiten beim Kommando hier die gänzlich freie Ernennung des eigenen „heres“, Da es im Staatsrecht der römischen Kaiserzeit keinen erblichen Anspruch auf die Herrschaft gab, konnten die Kaiser hinsichtlich ihrer Nachfolge formal dem Senat nur Vorschläge unterbreiten. Die Kaiser forcierten die Entscheidung, indem sie ihre Favoriten auf die Nachfolge zu Mitregenten erklärten oder sie testamentarisch als Erben des kaiserlichen Vermögens einsetzten und adoptierten, sofern es sich nicht ohnehin um ihre Söhne oder Enkel handelte. Vgl. Mommsen, ebd., S. 1135–1138.
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der den Göttern wie der familia pecuniaque Lateinische Bezeichnung für den „vollberechtigten Erben“, der nach römischem Erbrecht in Form der „Universalsuccession“ in die „Einheit des nachzulassenden sachlichen Interessenkreises des Testators“ eintrat. Vgl. Karlowa, Otto, Römische Rechtsgeschichte, Band 2. – Leipzig: Veit & Comp. 1901, S. 864.
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gegenüber in die Stelle des toten pater familias einrückt, eingedrungen ist. Wurde in der Nachfolge durch Adoption der Gedanke der Erblichkeit des Charisma mit herangezogen, ohne übrigens in dem genuinen römischen Heerkaisertum jemals wirklich als Prinzip anerkannt zu sein, so blieb auf der anderen Seite dem Prinzipat doch stets der Charakter des Amts: der princeps ist ein Beamter mit geordneter, auf Regeln beruhender bürokratischer Zuständigkeit geblieben, solange das Heerkaisertum seinen römischen Charakter behielt. Nach römischem Recht Bezeichnung für das gesamte Hauswesen und der damit verbundenen Herrschaftsrechte und religiösen Pflichten.
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Ihm die[497]sen Amtscharakter ver[A 765]liehen zu haben, ist das Werk des Augustus, welches, im Gegensatz stehend zu dem Gedanken einer hellenistischen Monarchie, Max Weber schließt sich hier der Sichtweise von Theodor Mommsen an, für den der „Princeps“ ein „Beamter“ war, der nicht über der Verfassung stand, sondern „mit einer in die verfassungsmässigen Ordnungen eingefügten und fest umschriebenen Competenz“ ausgestattet war (Mommsen, Römisches Staatsrecht II,23 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 749 f.). Nach seinem militärischen Sieg über Antonius legte Augustus am 13. Januar 27 v. Chr. seine außerordentlichen Vollmachten nieder und gab Senat und [497]Volk die Verfügungsgewalt über die res publica zurück. Er behielt jedoch das Konsulat und übernahm das Militärkommando (imperium proconsulare) über Provinzen, in denen noch starke Heeresverbände standen. Später kamen weitere Kompetenzen und Ämter hinzu.
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wie er Cäsar vorgeschwebt haben dürfte, von den Zeitgenossen als die Erhaltung und Herstellung römischer Tradition und Freiheit angesehen wurde. In den hellenistischen Monarchien, die aus dem Reich Alexander d.Gr. hervorgegangen waren, galt der Monarch als Verkörperung des Staates und als Quelle des Rechts. Zudem war die Nachfolge dynastisch geregelt, vor allem aber entfaltete sich um den Monarchen, der als Gottessohn, Wohltäter und Retter verehrt wurde, ein Herrscherkult.
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In entsprechender Weise wurde die Herrschaft des Augustus von Horaz, Properz, Ovid und Vergil dargestellt. Weber folgt in diesem Zusammenhang der Darstellung von Meyer, Eduard, Kaiser Augustus, in: HZ, Band 55, 1903, S. 385–431, hier: S. 412 f.
Hat nun aber der Träger des Charisma seinerseits keinen Nachfolger bezeichnet und fehlt es an eindeutigen äußeren Merkmalen, wie sie bei den Inkarnationen den Weg zu weisen pflegen, so liegt für die Beherrschten der Glaube nahe, daß die Teilhaber (clerici)
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seiner Herrschaft: die Jünger und Gefolgsleute, den nunmehr Qualifizierten als solchen zu erkennen die Berufensten seien. Es fällt ihnen daher, zumal sie allein sich faktisch im Besitz der Machtmittel befinden, nicht schwer, sich diese Rolle als „Recht“ anzueignen. Freilich, da das Charisma die Quelle seiner Wirksamkeit in dem Glauben der Beherrschten findet, so kann die Anerkennung des designierten Nachfolgers durch sie nicht entbehrt werden. Vielmehr ist die Anerkennung durch die Beherrschten das ursprünglich Entscheidende. Es war noch in der Zeit, als sich das Kurfürstenkollegium als wahlvorbereitendes Gremium schon fest abgegrenzt hatte, eine auch praktisch wichtige Frage: wer von den Kurfürsten den Wahlvorschlag an das versammelte Heer zu bringen habe. „clerici“ (Plural von „clericus“) sind im urchristlichen Sprachgebrauch diejenigen, die Anteil („Kleros“) am Erbe oder Eigentum Gottes haben. Erst seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts wandelte sich der Begriff zu einer Bezeichnung für Geistliche im Gegensatz zu Laien. Vgl. Sohm, Kirchenrecht, S. 235–247.
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Denn prinzipiell wenig[498]stens war er in der Lage, seinem ganz persönlichen Kandidaten, entgegen dem Willen der anderen Kurfürsten, die Akklamation zu verschaffen. Weber schließt sich hier der Meinung von Stutz, Ulrich, Der Erzbischof von Mainz und die deutsche Königswahl. Ein Beitrag zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1910, S. 113–116, an, die in der zeitgenössischen Mediävistik umstritten war. Nach Stutz war die Königswahl bis zur Einführung der Mehrheitswahl durch den Kurverein von Rhense (1338) eine „Zurufs- oder [498]Massenwahl mit notwendigerweise einhelligem Ergebnis“, weshalb dem „Kürruf“ des ersten Kurfürsten und „Leitwählers“ entscheidende Bedeutung für den Wahlausgang zugekommen sei. Zwar habe er als „Treuhänder der fürstlichen Vorwählerschaft“ denjenigen zu nennen gehabt, der in der Vorberatung bestimmt worden war, doch hätte er, betonte Stutz im Widerspruch zur gängigen Einschätzung des Wahlverfahrens, ebenso die Wähler für einen eigenen Kandidaten einnehmen können. Vgl. auch Wunderlich, Bruno, Die neueren Ansichten über die deutsche Königswahl und den Ursprung des Kurfürstenkollegiums. – Berlin: Emil Ebering 1913, S. 167–176.
Designation durch die nächsten und mächtigsten Gefolgsleute, Akklamation durch die Beherrschten ist also die normale Form, in welche diese Art der Nachfolgerkreierung ausläuft. Im patrimonialen und feudalen Alltagsstaat findet sich jenes, charismatischen Wurzeln entspringende Designationsrecht der Gefolgsleute als „Vorwahlrecht“ der bedeutendsten Patrimonialbeamten oder Lehensträger. Die deutschen Königswahlen sind darin den Bischofswahlen der Kirche nachgebildet.
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Die „Wahl“ eines neuen Königs, welche ganz ebenso wie die eines Papstes, Bischofs, Predigers mittelst 1. Bezeichnung durch die Jünger und Gefolgsleute (Kurfürsten, Kardinäle, Diözesanpriester, Kapitel, Älteste) und 2. nachfolgende Akklamation durch das Volk erfolgte, war also keine „Wahl“ im Sinne moderner Präsidenten- oder Abgeordnetenwahlen, sondern wenigstens dem genuinen Sinn nach etwas durchaus Heterogenes: Erkennung oder Anerkennung des Vorhandenseins der durch die Wahl nicht erst entstehenden, sondern vorher vorhandenen Qualifikation, eines Charisma also, auf dessen Anerkennung umgekehrt der zu Wählende als sein Träger einen Anspruch hat. Daher kann es im Prinzip ursprünglich keine Majoritätswahl geben, denn eine noch so kleine Minorität kann, in der Erkennung des ersten Charisma, ganz ebenso im Rechte sein, wie die noch so große Mehrheit irren kann. Nur einer kann der Richtige sein; die dissentierenden Wähler begehen also einen Frevel. Alle Normen der Papstwahl suchen die Erzielung der Einstimmigkeit zu erreichen. Doppelwahl eines Königs aber ist ganz dasselbe [499]wie kirchliches Schisma: Verdunkelung der richtigen Erkenntnis des Berufenen, welche prinzipiell nur durch dessen Bewährung im Gottesgericht des persönlichen Kampfes mit physischen oder magischen Mitteln zu beseitigen ist, wie er bei Thronprätendenten Die „Vorwahl“ des deutschen Königs erfolgte seit dem Ende des 12. Jahrhunderts durch die bedeutendsten geistlichen und weltlichen Fürsten. Das Wahlverfahren des Kurfürstenkollegiums war seit der Wahl Rudolfs von Habsburg (1273) bis zur Einführung der Mehrheitswahl (1338) den Bischofswahlen insofern nachgebildet, als die Wähler im Auftrag und Namen anderer eine „electio communis“ vollziehen konnten.
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von Negerstämmen (namentlich zwischen Brüdern) und auch sonst sich als Institution findet.[499]A: Tronprätendenten
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[499] Bei den zentralafrikanischen Banyoro kämpften die Anwärter um den Thron, bis nur noch einer von ihnen am Leben blieb. Vgl. Frazer, James George, The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, Part 1: The Magic Art and the Evolution of Kings, Vol. 1, 3rd Edition. – London: MacMillan & Co. Ltd. 1911, S. 322.
Und wenn das Majoritätsprinzip durchgedrungen ist, so gilt es als eine sittliche „Pflicht“ der Minderheit, sich dem nunmehr durch den Ausfall der Abstimmung erwiesenen Recht zu fügen und der Mehrheit nachträglich beizutreten.
Selbstverständlich hat aber nichtsdestoweniger die charismatische Herrschaftsstruktur mit dieser Art der Nachfolgebestimmung, sobald das Majoritätsprinzip durchdringt, die Bahn zum eigentlichen Wahlsystem betreten. Nicht jede moderne, auch nicht jede demokratische Form der Kreierung des Herrschers ist charismafremd. Jedenfalls das demokratische System der sogenannten plebiszitären Herrschaft – die offizielle Theorie des französischen Cäsarismus
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– trägt seiner Idee nach wesentlich charismatische Züge, und die Argumente seiner Vertreter laufen alle auf die Betonung eben dieser seiner Eigenart hinaus. Das Plebiszit ist keine [A 766]„Wahl“, sondern erstmalige oder (beim Plebiszit von 1870) erneute Anerkennung eines Prätendenten als persönlich qualifizierten, charismatischen Herrschers. Als ein Ausdruck dieser „offiziellen Theorie“ kann die Schrift: Les titres de la dynastie napoléonienne. – Paris: Plon 1868, gelesen werden, welche der unter innenpolitischen Druck geratene Kaiser Napoleon III. verfaßte bzw. verfassen ließ, um seine Herrschaft zu legitimieren, indem er sie auf den in den Plebisziten geäußerten Willen des Volkes zurückführte. Vgl. dazu die entsprechende Interpretation von Delbrück, Hans, Regierung und Volkswille. – Berlin: Georg Stilke 1914, S. 8 f. (hinfort: Delbrück, Regierung), sowie die Glossar-Einträge „Bonapartismus“ und „Cäsarismus“, unten, S. 782 und 783, und die Einleitung, oben, S. 45–47.
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[500]Aber auch die Demokratie des Perikles, der Idee ihres Schöpfers nach die Herrschaft des Demagogos durch das Charisma von Geist und Rede, enthielt gerade in der Wahl des einen Strategen (neben der Auslosung der anderen – wenn E[duard] Meyers Hypothese zutrifft Gemeint sind die französischen Plebiszite vom 7. November 1852 und vom 8. Mai 1870. Durch den ersten Volksentscheid wurde ein Senatskonsult bestätigt, das dem Präsidenten der französischen Republik, Charles Louis Napoléon Bonaparte, die kaiserliche Würde („dignité impériale“) zusprach und die Gründung des Zweiten Kaiserreiches legitimierte. Das Plebiszit von 1870 bestätigte Änderungen der Verfassung von 1852, die eine Parlamentarisierung des Regierungssystems einleiteten, aber Kaiser Napoleon III. dennoch eine überragende politische Position einräumten.
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–) ihren charakteristischen charismatischen Einschlag. Auf die Dauer tritt überall, wo ursprünglich charismatische Gemeinschaften den Weg der Kürung des Herrschers betreten, eine Bindung des Wahlverfahrens an Normen ein. Zunächst weil mit dem Schwinden der genuinen Wurzeln des Charisma die Alltagsmacht der Tradition und der Glaube an ihre Heiligkeit wieder die Übermacht gewinnt, und ihre Beachtung nun allein die richtige Wahl verbürgen kann. Hinter dem durch charismatische Prinzipien bedingten Vorwahlrecht der Kleriker oder Hofbeamten oder großen Vasallen tritt dann die Akklamation der Beherrschten zunehmend zurück, und es entsteht schließlich eine exklusive oligarchische Wahlbehörde. So in der katholischen Kirche wie im Heiligen Römischen Reich. Das gleiche aber vollzieht sich überall, wo eine geschäftserfahrene Gruppe das Vorschlags- oder Vorwahlrecht hat. Namentlich in den meisten Stadtverfassungen aller Zeiten ist daraus ein tatsächliches Kooptationsrecht regierender Geschlechter geworden, welche auf diese Art sowohl den Herren aus seiner Herrenstellung in die eines primus inter pares herabzogen (Archon, Konsul, Doge), wie andererseits die Gemeinde aus der Mitwirkung bei der Bestellung ausschalteten. In der Gegenwart finden wir z. B. in den Entwicklungstendenzen der Senatorenwahl in Hamburg dafür Parallelerscheinungen.[500] Nach Eduard Meyer, Geschichte des Alterthums III1, S. 347, wurde die Strategie (das Amt der Kriegführung) im 5. Jahrhundert zu einem „politische[n] Amt“. Jedoch seien sämtliche zehn Strategen Athens auch weiterhin gewählt worden: „Fortan werden nur neun Strategen aus den Phylen [Unterabteilung der Bürgerschaft] gewählt, der zehnte aus dem gesammten Volke; dieser, der Mann des vollen Vertrauens der Bürgerschaft, wird das militärische Oberhaupt des Staats, die übrigen Strategen sind seine Gehülfen, die nach Bedarf auch auf selbständige Missionen entsandt werden können, wenn der Krieg auf verschiedenen Schauplätzen, etwa zu Lande und zur See, gleichzeitig geführt wird.“
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Es ist [501]dies, formal betrachtet, der weitaus häufigste „legale“ Weg zur Oligarchie. Obwohl nach der Hamburger Verfassung von 1860 (1880 revidiert und bis 1921 in Kraft) die Wahl der Senatoren dem Stadtparlament („Bürgerschaft“) zufiel, kontrollierten die auf Lebenszeit gewählten Senatoren faktisch die Zusammensetzung des Senats. Dies läßt sich auf das in Artikel 9 der Verfassung niedergelegte Nominationsverfahren für die Kandidatur um einen Sitz im Senat zurückführen. Eine achtköpfige Kommission, bestehend aus je vier Repräsentanten des Senats und der Bürgerschaft fertigten eine Liste an, die zunächst aus vier Kandidaten bestand. Der Senat konnte zwei Kandidaten [501]streichen und mißliebige Bewerber weitgehend ausschalten, zumal fünf Kommissionsstimmen notwendig waren, damit sich ein Kandidat in der Bürgerschaft zur Wahl präsentieren konnte. Vgl. Artikel 9 der 1880 revidierten Verfassung in: Verfassungsurkunden für die freien und Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg (Deutsche Staatsgründungsgesetze in diplomatisch genauem Abdrucke, hg. von Karl Binding, Heft 10). – Leipzig: Engelmann 1897, S. 7–9, sowie Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 171 mit Anm. 85.
Die Akklamation der Beherrschten kann sich aber umgekehrt zu einem regulären „Wahlverfahren“ entwickeln, mit einem durch Regel normierten „Wahlrecht“, direkten oder indirekten, „Bezirks“- oder „Proportionalwahlen“, „Wahlklassen“ und „Wahlkreisen“. Der Weg dahin ist weit. Soweit es sich um die Wahl des auch formell höchsten Herrschers selbst handelt, ist er nur in den Vereinigten Staaten – wo einer der allerwesentlichsten Teile des Wahlgeschäftes natürlich innerhalb der „Nominations“-Kampagne jeder der beiden Parteien liegt – zu Ende gegangen worden, sonst überall höchstens nur bis zu den für die Besetzung des Premierministerpostens und seiner Kollegen maßgebenden „Repräsentanten“-Wahlen für die Parlamente. Die Entwicklung von der charismatischen Herrscherakklamation zur eigentlichen Herrscherwahl direkt durch die Gemeinschaft der Beherrschten ist auf den allerverschiedensten Kulturstufen vollzogen worden, und jedes Vordringen einer rationalen, von emotionalem Glauben befreiten Betrachtung des Vorgangs mußte ja diesen Umschlag herbeiführen helfen. Dagegen zum Repräsentativsystem ist die Herrscherwahl nur im Okzident allmählich entwickelt worden. Im Altertum sind z. B. die Boiotarchen Repräsentanten ihrer Gemeinde
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– wie ursprünglich auch die Delegierten der englischen „Commoner“ „Boiotarchen“ waren die auf ein Jahr gewählten Vertreter der Bezirke des mittelgriechischen, boiotischen Städtebundes (447–386 und 379–146 v. Chr.). Vor 386 v. Chr. bestand das Kollegium der Boiotarchen aus elf, nach 364 v. Chr. aus sieben und nach 338 v. Chr. aus acht Personen. Es hatte beratende Funktionen gegenüber der Bundesversammlung, diente als Gesandtschaft und übte das Militärkommando über die Bundestruppen aus.
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–, Max Weber folgt hier der vor allem von Jellinek, Staatslehre2 (wie oben, S. 7, Anm. 26), S. 559 f., vertretenen These, daß das englische Unterhaus („House of Commons“) ursprünglich kein Repräsentationsorgan im Sinne moderner Parlamentarismustheorien gewesen sei. Die Abgeordneten seien nicht als die Vertreter des Willens einzelner Wähler angesehen worden, sondern als die von den Kommunen entsandten und in[502]struierten Abgeordneten. Diese Vorstellung habe auch fortgewirkt, nachdem sich diese Art der dauernden Verbindung von Kommunen und Unterhaus durch die Abschaffung der Instruktionen für die Abgeordneten aufgelöst habe und die Mitglieder des Unterhauses, zusammen mit der Gesamtheit der weltlichen und geistlichen Lords, die „Volksgesammtheit“ repräsentiert hätten (ebd., S. 560).
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nicht der Wähler als solcher, und wo, wie [502]in der attischen Demokratie, die Beamten wirklich nur Mandatare und Vertreter des Demos sein sollen und dieser in Abteilungen zerlegt wird, gilt vielmehr das Turnusprinzip und nicht der eigentliche „Repräsentations“-Gedanke. Nur ist der Gewählte bei rücksichtsloser Durchführung des Prinzips formell ebenso wie in der unmittelbaren Demokratie Beauftragter und also der Diener seiner Wähler, nicht ihr gekürter „Herr“. Damit ist der Struktur nach die charismatische Grundlage völlig verlassen. Allein diese rücksichtslose Durchführung der Prinzipien der „unmittelbaren“ Demokratie unter den Verhältnissen großer Verwaltungskörper ist stets nur fragmentarisch möglich. [501]A: „Commoner“, –
Das „imperative“ Mandat des Repräsentanten ist schon rein technisch, infolge der stets wandelbaren Situation und der stets entstehenden unvorhergesehenen Probleme, nur unvollkommen durchführbar, die „Abberufung“ des Repräsentanten durch Mißtrauensvotum seiner Wähler bisher nur ganz vereinzelt versucht worden, und [A 767]die Überprüfung der Beschlüsse der Parlamente durch das „Referendum“ bedeutet in der Hauptsache eine wesentliche Stärkung aller irrationalen Mächte des Beharrens, weil sie Feilschen und Kompromiß zwischen den Interessenten technisch normalerweise ausschließt. Die häufige Wiederholung der Wahlen endlich verbietet sich durch deren zunehmende Kosten. Alle Versuche der Bindung der Volksvertreter an den Willen der Wähler bedeuten im Effekt auf die Dauer regelmäßig nur: Stärkung der ohnehin steigenden Macht der Repräsentantenparteiorganisation über ihn, da diese allein das „Volk“ in Bewegung setzen können. Sowohl das sachliche Interesse an der Elastizität des parlamentarischen Apparates wie das Machtinteresse sowohl der Volksvertreter wie der Parteifunktionäre vereinigen sich in der Richtung: den „Volksvertreter“ nicht als Diener, sondern als gekürten „Herren“ seiner Wähler zu behandeln. Fast alle Verfassungen drücken dies in der Form aus: daß er – wie der Monarch – unverantwortlich ist für seine Abstimmungen und daß er „die [503]Interessen des ganzen Volkes vertrete“.
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Seine faktische Macht kann sehr verschieden sein. In Frankreich ist der einzelne Deputierte tatsächlich nicht nur der normale Chef der Patronage aller Ämter, sondern überhaupt im eigentlichsten Sinn „Herr“ seines Wahlkreises – daher der Widerstand gegen die Proportionalwahl und das Fehlen der Parteizentralisation[503] Eine entsprechende Bestimmung findet sich beispielsweise in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, Art. 29: „Die Mitglieder des Reichstags sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.“
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–; in den Vereinigten Staaten steht dem die Übermacht des Senats im Wege und nehmen die Senatoren eine ähnliche Stellung ein; Die um die Jahrhundertwende aufkommende französische Wahlrechts-Reformbewegung wollte die seit 1889 bestehende Form der absoluten Mehrheitswahl in Ein-Mann-Wahlkreisen durch die Verhältniswahl ersetzen, um klare parlamentarische Mehrheiten zu schaffen und dem geringen Organisationsgrad der Parteien entgegenzuwirken. Vor dem Ersten Weltkrieg scheiterte die Einführung der Verhältniswahl an der radikalen Mehrheit des französischen Senats. Hans Delbrück, Regierung (wie oben, S. 499, Anm. 40), S. 21–28, erklärte den Widerstand der Abgeordneten (des Senats wie der Deputiertenkammer) dadurch, daß sie unter dem Verhältniswahlrecht zu einem „dienende[n] Glied in der Parteiorganisation“ (ebd., S. 28) herabgesunken wären und somit die Stellung als „absolute Herr[en]“ (ebd., S. 24) ihrer Wahlbezirke verloren hätten. Diese habe vor allem auf dem beherrschenden Einfluß der Abgeordneten auf die Beamten der lokalen Verwaltungsbehörden beruht.
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in England und noch mehr in Deutschland ist, aus einander sehr entgegengesetzten Gründen, der einzelne Deputierte als solcher mehr der Kommis als der Herr seiner Wahlkreisinsassen für deren ökonomische Interessen Vermutlich bezieht sich Webers Äußerung auf den Protest der US-Senatoren gegen einen am 15. Mai 1912 im Kongreß eingebrachten Antrag zur Verfassungsänderung. Das am 31. Mai 1913 angenommene Amendment (Nr. XVII) legt fest, daß die beiden, von jedem Bundesstaat zu entsendenden Senatoren direkt von den Bürgern und nicht mehr von den jeweiligen Bundesregierungen oder -parlamenten zu wählen seien. Seitdem wurde die Senatorenwahl vollständig durch die „gesamtstaatlichen Parteien“ beherrscht, und die Senatoren waren nicht mehr primär Gesandte ihres Bundesstaates, sondern Vertreter der Wählerklientel. Vgl. Loewenstein, Karl, Verfassungslehre. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1959, Zitat: S. 305.
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und liegt der Einfluß auf die Patronage in den Händen der einflußreichen Parteichefs als solcher. Es können die, in der historisch bedingten Art der Herrschaftsstrukturen liegenden, zum erheblichen Teil eigengesetzlichen, d. h. technisch bedingten Gründe, wie der Wahlmechanismus die Macht verteilt, hier nicht weiter verfolgt werden. Nur auf die Prinzipien [504]kam es an. Jede „Wahl“ kann den Charakter einer bloßen Form ohne reale Bedeutung annehmen. So bei den Komitien der ersten Kaiserzeit Im deutschen Kaiserreich galt das absolute Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen, d. h. es wurde nicht nach Parteien und Listen abgestimmt, sondern Personen direkt gewählt. Diese waren von den dominierenden Interessengruppen des Wahlkreises abhängig, in besonderem Maße in Preußen, wo das Dreiklassenwahlrecht galt.
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und in vielen hellenischen und mittelalterlichen Städten, sobald entweder ein oligarchischer Klub oder ein Gewaltherrscher über die politischen Machtmittel verfügte und die zu wählenden Amtskandidaten faktisch bindend designierte. Auch wo dies aber formal nicht der Fall ist, tut man gut, wo immer für die Vergangenheit in den Quellen in allgemeinen Wendungen von einer „Wahl“ der Fürsten oder anderer Gewalthaber durch die Volksgemeinde die Rede ist – wie bei den Germanen[504] Die Wahl der römischen Magistrate wurde 14 n. Chr. durch Tiberius von den Volksversammlungen der Bürgerschaft (comitia) auf den Senat übertragen. Nach Mommsen, Römisches Staatsrecht III,13 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 348 f., auf den Weber sich hier stützt, fand in der frühen Kaiserzeit nur noch ein „formaler Wahlact“ der Komitien statt, „wobei wohl an die Stelle der Aufrufung der Stimmkörper die Acclamation der anwesenden Bürger trat“.
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–, den Ausdruck nicht im modernen Sinne, sondern in dem einer bloßen Akklamation eines in Wahrheit durch irgend eine andere Instanz designierten Tacitus, Germania 12, 22. Vgl. zu den in dieser Hinsicht von der zeitgenössischen Mediävistik diskutierten Quellen auch Waitz, Georg, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 1, 3. Aufl. – Kiel: Ernst Homann 1880, S. 320 ff.
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und überdies nur einem oder wenigen qualifizierten Geschlechtern[504]A: designierten,
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entnommenen Kandidaten zu nehmen. Überhaupt keine „Wahl“ liegt natürlich auch dann vor, wo eine Abstimmung über die Herrengewalt plebiszitären, also charismatischen Charakter trägt, wo also nicht ein Wählen zwischen Kandidaten, sondern die Anerkennung der Machtansprüche eines Prätendenten vorliegt. – Auch jede normale „Wahl“ aber kann der Regel nach lediglich eine Entscheidung zwischen mehreren, schon vorher als allein in Betracht kommend, feststehenden und dem Wähler präsentierten Prätendenten sein, welche auf dem Kampfplatz der Wahlagitation durch persönlichen Einfluß, Appell an materielle oder ideelle Interessen herbeigeführt wird und bei welcher die Bestimmungen über das Wahlverfahren gewissermaßen die Spielregeln für den in der Form „friedlichen“ Kampf darstellen. Die Designation der allein in Betracht kommenden Kandidaten hat alsdann ihren primären Sitz innerhalb der Parteien. Denn selbstverständlich ist es nicht ein amorphes Gemeinschaftshandeln von Wahlberechtigten, sondern sind es Parteiführer und ihre persönlichen Ge[505]folgschaften, welche nun den Kampf um die Wahlstimme und damit um die Patronage der Ämter organisieren. Die Wahlagitation kostet schon jetzt in den Vereinigten Staaten innerhalb des Quadrienniums direkt und indirekt etwa so vielA: Geschlechten
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wie ein Kolonialkrieg,[505]A: viel,
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und ihre Kosten steigen auch in Deutschland für alle nicht mit den billigen Arbeitskräften der [A 768]Kapläne, feudalen[505] Der teuerste US-Präsidentschaftswahlkampf vor dem Ersten Weltkrieg war derjenige des Jahres 1896: Die Wahlkampfkosten für den erfolgreichen Republikaner William McKinley betrugen ca. 3,5 Mio. US-Dollar, die seines Gegners William Jennings Bryan nur annähernd 700.000. Nach zeitgenössischen Berichten hätten Vertreter großkapitalistischer Interessen im Vorfeld bereits 10 bis 20 Mio. US-Dollar aufgewendet, um McKinley als Kandidaten durchzusetzen. (Vgl. Stangeland, Charles E., Die Entwicklung der politischen Parteien in den Vereinigten Staaten, in: Zeitschrift für Politik, Band 4, 1911, S. 229–300, hier: S. 277). Im Vergleich dazu kostete die Franzosen die Okkupation des westlichen Sudan zwischen 1888 und 1893 ca. 9 Mio. Francs, danach jährlich ca. 8. Mio.
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oder amtlichen Honoratioren oder der anderweit bezahlten Gewerkschafts- und anderen Sekretären arbeitenden Parteien bedeutend.A: Feudalen
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Neben der Macht des Geldes Max Weber spielt auf die großen nicht-liberalen Parteien des Kaiserreichs an: Zentrum, Konservative (insbesondere unterstützt durch den ostelbischen Großgrundbesitz) und Sozialdemokratie.
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entfaltet dabei das „Charisma der Rede“A: Geldes – Der Gedankenstrich wurde emendiert, könnte aber auf eine Lücke im Manuskript hinweisen.
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seine Gewalt. Deren Macht ist an sich nicht an eine besondere Kulturlage gebunden. Die indianischen Häuptlingsversammlungen und die afrikanischen Palavers kennen sie auch. In der hellenischen Demokratie erlebte sie ihre erste gewaltige qualitative Entfaltung mit unermeßlichen Folgen für die Entwicklung der Sprache und des Denkens, Eine entsprechende Formulierung findet sich in dem, in weiten Teilen der Debatte über Sohm, Kirchenrecht, gewidmeten Literaturbericht von Sell, Karl, Forschungen der Gegenwart über Begriff und Entstehung der Kirche, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Band 4, 1894, S. 347–417. Dort betonte Sell – in Anlehnung an Sohm, Kirchenrecht, S. 504–506, und mit Bezug auf das Luthertum –, daß einzelne Personen auch ohne rechtliche Ansprüche eine herausragende Position einnehmen könnten: „[…] es gibt Sprachgewaltige unter uns, die ein besonderes Charisma der Rede haben, die bringen innerhalb der Sprache aus ihren Tiefen Neues hervor und wo die reden, verstummen von selbst alle anderen.“ (ebd., S. 382).
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während freilich rein quantitativ die modernen demokratischen [506]Wahlkämpfe mit ihren „stump speeches“ alles früher Dagewesene übertreffen. Gemeint ist die kunstmäßig betriebene Beredsamkeit, die Rhetorik. In der zeitgenössischen Literatur vertrat Friedrich Blass die These, daß sich am Beispiel der attischen Demokratie der Zusammenhang von qualitativer Entwicklung der Redekunst und Beteiligung des Volkes an der Regierung beweisen lasse. Die athenische Verfassung und Rechtsprechung beruhten auf großen Volksversammlungen und Volksgerichten, die ge[506]schulte Redner erforderten und diesen großen Einfluß eröffneten. Vgl. Blass, Friedrich, Die attische Beredsamkeit, 1. Abteilung: Von Georgias bis zu Lysias, 3. Aufl. – Leipzig: B. G. Teubner 1887.
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Je mehr Massenwirkung beabsichtigt ist und je straffer die bürokratische Organisation der Parteien wird, desto nebensächlicher wird dabei die Bedeutung des Inhalts der Rede. Denn ihre Wirkung ist, soweit nicht einfache Klassenlagen und andere ökonomische Interessen gegeben und daher rational zu berechnen und zu behandeln sind, rein emotional und hat nur den gleichen Sinn, wie die Parteiumzüge und Feste: den Massen die Vorstellung von der Macht und Siegesgewißheit der Partei und vor allem von der charismatischen Qualifikation des Führers beizubringen. „Stump speeches“ bezeichneten im Amerikanischen ursprünglich die auf einem „Baumstumpf“ (stump) gehaltenen (Wahl-)Reden mit demagogischem oder hetzerischem Charakter. Weber bezieht sich hier auf zeitgenössische Präsidentschaftswahlen in den USA, die nach Ostrogorski, Political Parties II (wie oben, S. 164, Anm. 13), S. 308, vor allem eine straff organisierte „speaking campaign“ waren. Die nationalen Parteikomitees wählten für die Wahlkampfveranstaltungen entsprechend der zu erreichenden Zielgruppen geeignete Redner aus, die durch „floods of oratory“ Wählerstimmen gewinnen sollten.
Daß alle emotionale Massenwirkung notwendig gewisse „charismatische“ Züge an sich trägt, bewirkt es auch, daß die zunehmende Bürokratisierung der Parteien und des Wahlgeschäfts gerade dann, wenn sie ihren Gipfel erreicht, durch ein plötzliches Aufflammen charismatischer Heldenverehrung in deren Dienst gezwungen werden kann. Das charismatische Heldentum gerät in diesem Fall – wie die Roosevelt-Kampagne zeigte
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– in Konflikt mit der Alltagsmacht des „Betriebs“ der Partei. Der Republikaner Theodore Roosevelt (US-Präsident 1901–1909) hatte erst am 24. Februar 1912, den Bitten der Gruppe der „Progressiven“ innerhalb der republikanischen Partei folgend, öffentlich bekanntgegeben, daß er sich um die Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen des Jahres 1912 bewerben werde. Die Republican National Convention, die über die Nominierung des republikanischen Kandidaten abstimmte, fand am 18. Juni 1912 in Chicago statt. Obwohl Roosevelt seine Popularität in einer erfolgreichen Kampagne (Februar bis Juni 1912) für die Vorwahlen („primaries“) in den verschiedenen Bundesstaaten erwiesen hatte, konnte er sich nicht gegen den amtierenden Präsidenten und Kandidaten der konservativen Republikaner William Howard Taft durchsetzen, weil dieser die Parteimaschine kontrollierte und so seine erneute Nominierung am 22. Juni 1912 sichern konnte. Roosevelt verzichtete indessen nicht auf seine Kandidatur und wurde von der eigens zu diesem Zweck gegründeten Progressive Party am 7. August 1912 als Kandidat nominiert. Durch diese Spaltung der Republikanischen Partei konnte der Demokrat Woodrow Wilson die Wahlen am 5. November 1912 [507]für sich entscheiden, obwohl die beiden republikanischen Kandidaten zusammen die absolute Mehrheit erhalten hatten. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 474.
[507]Das allgemeine Schicksal
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aller Parteien, die fast ausnahmslos als charismatische Gefolgschaften[,] sei es legitimer, sei es cäsaristischer Prätendenten, Demagogen perikleischen oder kleonischen oder lassalleschen Stils[,][507]q–q (bis S. 513: Verbindung wirksam.) Petitdruck in A.
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beginnen, ist es, wenn sie überhaupt in den Alltag einer Dauerorganisation ausmünden, sich in ein durch „Honoratioren“ geleitetes Gebilde, man kann behaupten, bis Ende des 18. Jahrhunderts fast stets in eine Adelsföderation, umzuformen. In den italienischen Städten des Mittelalters gab es mehrfach – da die ganz große Lehnbürgerschaft allerdings fast durchweg ghibellinisch war – eine direkte „Strafversetzung“ unter die Nobili, gleichbedeutend mit Amtsdisqualifikation und politischer Entrechtung. Perikles und Kleon wurden bereits in antiker Überlieferung als Demagogen bezeichnet (vgl. auch die Einträge im Personenverzeichnis, unten, S. 773 und 766 f.). Ferdinand Lassalle wurde durch seinen Biographen Hermann Oncken als „großer Demagoge“ charakterisiert und seine Ronsdorfer Rede vom 23. Mai 1864 als „ausgesprochenste demagogische Redeleistung“ hervorgehoben. Vgl. Oncken, Hermann, Lassalle. – Stuttgart: Fr. Frommanns (E. Hauff) 1904, S. 410, 405, als Handexemplar Max Webers überliefert (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, BAdW München).
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Dennoch ist es die höchst seltene Ausnahme, auch unter den „popolani“, daß ein Nichtadeliger ein leitendes Amt erhält, Gemeint sind hier Bestimmungen in den Verfassungen der Volksbewegungen (popolani) der oberitalienischen Kommunen des 13. und 14. Jahrhunderts, die sich gegen den herrschenden stadtsässigen Adel und das Rittertum (milites) richteten. Die von Max Weber erwähnte Verfügung ist enthalten in den 1293 verfaßten (und bis 1324 erweiterten) „Ordinamenti di Giustizia del Popolo e del Comune di Firenze“. Gemäß Artikel 110 werden „Verräter des Volkes“ und „Anhänger des Adels“ samt ihrer Nachkommenschaft in männlicher Linie als Adlige (grandi) behandelt, womit sie ihre politischen Mitwirkungsrechte in der Florentiner Kommune verlieren sollten. Vgl. Emiliani-Giudici, Paolo, Storia dei Comuni Italiani, Volume Terzo (Documenti). – Firenze: Le Monnier 1866, S. 144.
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obwohl doch hier, wie stets, [508]das Bürgertum die Parteien finanzieren mußte. Entscheidend war damals, daß die Militärmacht der sehr oft zu direkter Gewalt greifenden Parteien durch den Adel, bei den Guelfen z. B. nach einer festen Matrikel, gestellt wurde. Die popolani (vgl. oben, Anm. 59) wurden als Eidgenossenschaften von Zünften in der zeitgenössischen Historiographie als Mittelstandsbewegungen charakterisiert. Sie zielten auf den Schutz vor Übergriffen und auf die Entmachtung (ghibellinischer wie guelfischer) „Magnaten“, d. h. der Adelsgeschlechter feudalen Ursprungs, aber auch vermögender patrizischer Großkaufleute, die den Titel eines Ritters führten und mit dem Feudaladel zur städtischen Oberschicht verschmolzen waren. Danach wurden Magnatengeschlechtern, die das Regiment der popolani unterstützten, eine Ausnahmestellung und politische Mitwirkungsrechte zugebilligt, indem man sie als Nichtadlige behandelte. Vgl. Davidsohn, Robert, Geschichte von Florenz, Band 2: Guelfen und Ghibellinen, 2 Teile. – Berlin: Ernst Siegfried Mittler und Sohn 1908, hier: Teil 2, S. 473–481 (hinfort: Davidsohn, Florenz II,1 und II,2).
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Hugenotten und Liga,[508] Der Sachverhalt konnte nicht aufgeklärt werden. Im Statut der Parte Guelfa von 1335 finden sich lediglich Hinweise auf die Zusammensetzung der Kavallerie. Vgl. die Ausgabe in italienischer Sprache von Bonaini, Francesco, Statute della Parte Guelfa di Firenze, in: Giornale Storico degli Archivi Toscani, vol. 1, 1857, S. 1–41, bes. Kap. 26–29 und 39, S. 35–37, 41.
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die englischen Parteien einschließlich der „Roundheads“, In den französischen Religionskriegen (1559–1598) versuchten die großen Adelsgeschlechter sowohl auf der Seite der protestantischen „Hugenotten“ als auch der Katholiken ihre eigene Macht gegen die Krone zu erweitern. Nach dem Frieden von Beaulieu vom 6. Mai 1576, der den Protestanten bislang unerreichte Rechte einräumte, reagierten die Katholiken mit der Begründung der „Liga“, welche die Gegensätze des Bürgerkrieges radikalisierte. Erst mit dem Edikt von Nantes vom 30. April 1598 wurden die konfessionellen Gegensätze unter Heinrich IV. beigelegt.
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überhaupt alles, was an Parteien vor der französischen Revolution liegt, zeigt den gleichen typischen Vorgang eines Hinübergleitens aus einer charismatischen Erregungsperiode, welche Klassen- und Ständeschranken zugunsten eines oder einiger Helden durchbricht, Als „roundheads“ (Rundköpfe) wurden im Englischen Bürgerkrieg (1642–1649) die Parlamentsanhänger bezeichnet, da die Puritaner unter ihnen, im Gegensatz zu den meist adligen Anhängern des Königs („Kavaliere“), keine Perücken trugen, sondern kurzgeschorene Haare hatten.
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zur Entwicklung von Honoratiorenverbänden mit meist adliger Führung. Auch die „bürgerlichen“ Parteien des 19. Jahrhunderts, die radikalsten nicht ausgenommen, gerieten stets in das Geleise der Honoratiorenherrschaft. Schon weil nur die Honoratioren, wie den Staat selbst, so auch die Partei ohne Entgelt regieren konnten. Außerdem aber natürlich infolge ihres ständischen oder ökonomischen Einflusses. Wo immer auf dem platten Lande ein Grundherr die Partei wechselte, verstand es sich in England ganz ebenso wie später etwa bis in die 70er Jahre in Ostpreußen annähernd von selbst, daß nicht nur die patrimonial von ihm Abhängigen, sondern – Zeiten revolutionärer Erregung ausgenommen – auch die Bauern ihm folgten. In den Städten, wenigstens den kleineren, spielten neben den Bürgermeistern die Richter, Notare, Advokaten, Pfarrer[508] In A folgt: einiger Helden
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und Lehrer, vor der Organisation der Arbeiterschaft als Klasse oft auch die Fabrikanten, eine wenigstens annähernd ähnliche Rolle. Warum diese letzteren, auch abgesehen [509]von der Klassenlage, zu dieser Rolle relativ wenig qualifiziert sind, ist in anderem Zusammenhang zu erörtern.A: Pfarrer,
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Die Lehrer sind in Deutschland diejenige Schicht, welche – aus den durch die „ständische“ Lage des Berufs gegebenen Gründen – den spezifisch „bürgerlichen“ Parteien als unentgeltliche Wahlagenten ebenso zur Verfügung stehen, wie die Geistlichen (normalerweise) den autoritären. In Frankreich waren es von jeher die Advokaten, welche, teils infolge ihrer technischen Qualifiziertheit, teils – in und nach der Revolutionszeit – infolge ihrer ständischen Lage, den bürgerlichen Parteien zur Verfügung standen. [509] Der Bezug ist unklar. Die ökonomische Unabkömmlichkeit der „Schicht moderner Fabrikanten“ wurde bereits im Text „Herrschaft“, oben, S. 141, kurz angesprochen, aber nicht ausgeführt. Möglicherweise handelt es sich daher um einen Hinweis auf das in der Einteilung des „Grundriß der Sozialökonomik“ vom Juni 1914 vorgesehene Kapitel „8. e) Die modernen politischen Parteien.“ (GdS1, Abt. I, 1914, S. XI; MWG I/22-6 [[MWG I/24, S. 169]]). Max Weber ging dann erst wieder in seinem 1917 veröffentlichten Aufsatz „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ auf das Thema ein (vgl. MWG I/15, S. 378).
[A 769]Einzelne Gebilde der französischen Revolution, denen aber eine zu kurze Dauer beschieden war, um eine definitive Struktur zu entwickeln, zeigen zuerst einige Ansätze zu bürokratischer Formung,
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und erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beginnt diese überall die Oberhand zu gewinnen. An die Stelle des Pendelns zwischen einerseits charismatischer und andererseits honoratiorenmäßiger Obödienz tritt nun das Ringen des bürokratischen Betriebes mit der charismatischen Parteiführerschaft. Der Parteibetrieb gerät, je entwickelter die Bürokratisierung ist und je umfangreichere direkte und indirekte Pfründeninteressen und Chancen an ihm hängen, desto sicherer in die Hände von „Fachmännern“ des Betriebes In den Parlamenten der französischen Revolution fanden sich voneinander abgrenzbare Gruppierungen und Sociétés, d. h. freie Vereinigungen von politisch Gleichgesinnten, so. z. B. die „Société de 1789“ um Mirabeau und Sieyès, die Girondisten oder Feuillants. Am straffesten war der „Club breton“, der spätere „Club des Jacobines“, organisiert. Er bereitete Gesetzesinitiativen vor, gab sich 1790 Statuten und knüpfte systematisch Verbindungen zu provinzialen Klubs. Von Robespierre instrumentalisiert, verlor er bereits 1793 an Einfluß. Vgl. v. Albertini, Parteiorganisation (wie oben, S. 203, Anm. 90), S. 537–546.
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– mögen diese sofort als offizielle Parteibeamte oder zunächst als freie Unternehmer wie die Bosse in Amerika auftreten –,[509]A: Betriebes,
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in deren Hand die systematisch angeknüpften persönlichen Beziehungen zu den Vertrauensmännern, Agitatoren, Kontrolleuren und dem sonsti[510]gen unentbehrlichen Personal, die Listen und Akten und alles andere Material liegt, dessen Kenntnis allein die Lenkung der Parteimaschine ermöglicht. Eine erfolgreiche Beeinflussung der Haltung der Parteien und eventuell eine erfolgreiche Abspaltung von ihr kann dann nur vermittels des Besitzes eines solchen Apparates durchgeführt werden. Daß der Abg[eordnete] Rickert die Vertrauensmännerlisten besaß, ermöglichte die „Sezession“,A: auftreten, –
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daß Eugen Richter und Rickert jeder seinen Sonderapparat in der Hand behielten, prognostizierte die Spaltung der Freisinnigen Partei,[510] 1877/78 richtete Heinrich Rickert sen., der für die Nationalliberale Partei dem Reichstag angehörte, ein privates Wahlbüro ein. Er legte u. a. ein Verzeichnis der Vertrauensmänner in den Wahlkreisen an. Als es 1880 zur Abspaltung (Sezession) der freihändlerischen Gruppe um Rickert kam, äußerte sich Eduard Stephani besorgt über den Verbleib der Akten. Vgl. Oncken, Hermann, Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker. Nach seinen Briefen und hinterlassenen Papieren, Band 2. – Stuttgart, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1910, S. 440.
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und daß sich die „Altnationalliberalen“ das Material der Parteikontrolle zu beschaffen wußten, war ein ernsthafteres Symptom wirklicher Abspaltungsabsichten als alles Gerede vorher. 1884 entstand aus der Fusion von Fortschrittspartei und Sezessionisten die Deutsch-Freisinnige Partei. Getrennt blieben aber die Wahlvereine, die Kontakte zu den Vertrauensmännern und die Geldmittel der Partei sowie die Publikationsorgane. 1893 kam es zur Spaltung in Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung, jeweils mit Richter und Rickert in führenden Positionen. Diese Zersplitterung des linksliberalen Parteienspektrums konnte erst nach dem Tod Eugen Richters im März 1906 durch die Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei (1909) überwunden werden.
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Umgekehrt pflegt an der Unmöglichkeit der persönlichen Verschmelzung rivalisierender Apparate weit mehr als an sachlichen Differenzen jeder Versuch von Parteiverschmelzungen zu scheitern, wie ebenfalls deutsche Erfahrungen illustrieren. Dieser mehr oder minder konsequent entwickelte bürokratische Apparat bestimmt nun in normalen Zeiten das Verhalten der Partei einschließlich der entscheidend wichtigen Kandidatenfragen. Aber: selbst innerhalb so streng bürokratisierter Gebilde[,] wie die nordamerikanischen Parteien es sind, entwickelt sich, wie die letzte Präsidentschaftskampagne lehrte, Innerhalb der Nationalliberalen Partei spitzten sich seit 1905 die Gegensätze zwischen den Jungliberalen und der konservativen („altliberalen“) Parteimehrheit zu. Im März 1912 wurde ein Antrag auf Ausschluß der Jungliberalen gestellt und ein Altliberaler Reichsverband gegründet, der die Korrespondenz führte und Resolutionen verfaßte. Letztlich konnte der Streit durch eine Verständigungskommission geschlichtet werden.
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in Zeiten starker [511]Erregung gelegentlich immer wieder der charismatische Typus der Leitung. Steht ein „Held“ zur Verfügung, so sucht er die Herrschaft der Parteitechniker durch Oktroyierung plebiszitärer Designationsformen, unter Umständen durch Umgestaltung der ganzen Nominationsmaschinerie zu brechen. Jede solche Erhebung des Charisma stößt natürlich auf den Widerstand des in normalen Zeiten herrschenden Apparats der professionellen Politiker, insbesondere der die Leitung und Finanzierung organisierenden und das Funktionieren der Partei in Gang haltenden Bosse, deren Kreaturen die Kandidaten zu sein pflegen. Denn nicht Gemeint sind die Präsidentschaftswahlen des Jahres 1912. Vgl. dazu oben, S. 506, Anm. 57.
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nur die materiellen Interessen der Stellenjäger hängen an der Auswahl der Parteikandidaten. Auch die materiellen Interessen der Parteimäzenaten – Banken, Lieferanten, Trustinteressenten – werden natürlich sehr tief von diesen Personenfragen berührt. Der große Geldgeber, der im Einzelfall einen charismatischen Parteiführer finanziert und von seinem Wahlsiege, je nachdem, Staatsaufträge, Steuerpachten, Monopole oder sonstige Privilegien, vor allem Rückerstattung seiner Vorschüsse mit entsprechender Verzinsung erwartet, ist seit den Zeiten des Crassus eine typische Figur. Auf der anderen Seite lebt aber auch der reguläre Parteibetrieb von Parteimäzenaten. Die ordentlichen Einkünfte der Partei: Beiträge von Mitgliedern und etwaige Steuern vom Gehalte der durch die Partei ins Amt gebrachten Beamten (Nordamerika), reichen selten aus. Die direkte ökonomische Ausbeutung der Machtstellung der Partei bereichert zwar die Beteiligten, ohne aber zugleich notwendig die Parteikasse selbst zu füllen. Die Mitgliedsbeiträge sind gar nicht selten, der Propaganda halber, ganz abgeschafft oder auf Selbsteinschätzung gestellt und damit die Großgeldgeber auch formell zu Beherrschern der Parteifinanzen gemacht. Der reguläre Betriebsleiter und eigentliche Fachspezialist, der Boß oder Parteisekretär, kann aber durchweg auf ihr Geld nur rechnen, wenn er die Parteimaschinerie fest in der Hand hat. Jede Erhebung des Charisma bedroht daher den regulären Betrieb auch finanziell. Es ist deshalb kein seltenes Schauspiel, daß sich die einander bekämpfenden Bosse oder sonstigen Leiter der konkurrierenden Parteien untereinander zusammenschließen, um im gemeinsamen geschäftlichen Interesse das Aufkommen charismatischer Führer, die vom regulären Betriebsmechanismus unabhängig wären, zu ersticken. Die[512]se Kastrierung des Charisma gelingt dem Parteibetriebe in der Regel leicht und wird in Amerika auch im Fall der Durchführung der[511] Fehlt in A; nicht sinngemäß ergänzt.
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plebiscitären charismatischen „presidential primaries“ immer wieder gelingen, weil eben die Kontinuierlichkeit des fachmännischen Betriebes als solchen taktisch auf die Dauer der emotionalen Heldenverehrung überlegen bleibt. Nur außerordentliche Bedingungen können dem Charisma über den Betrieb zum Siege verhelfen. Jenes eigentümliche Verhältnis von Charisma und Bürokratie, welches bei der Einbringung der ersten Homerule-Vorlage die englische liberale Partei spaltete,[512]A: des
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ist bekannt: Gladstones ganz persönliches, für den puritanischen Rationalismus unwiderstehliches, [A 770]Charisma zwang die Caucusbürokratie, trotz entschiedenster sachlicher Abneigung und übler Wahlprognose, in ihrer Mehrheit bedingungslos zu schwenken und zu ihm zu stehen, führte so zur Spaltung des von Chamberlain geschaffenen Mechanismus und damit zum Verlust der Wahlschlacht.[512] Gemeint ist der 1886 von dem liberalen Partei- und Regierungschef William Ewart Gladstone in das Parlament eingebrachte Gesetzesentwurf, welcher für Irland einen autonomen Status mit eigener Regierung und eigenem Parlament im Rahmen des Vereinigten Königreiches („Home Rule“) vorsah. 93 liberale Abgeordnete stimmten gegen die Vorlage der eigenen Regierung. Diese Spaltung der Liberalen führte dazu, daß sich die Gegner der Home-Rule-Politik in den folgenden Jahren unter Führung Joseph Chamberlains als eigene liberale Gruppierung („Liberal Unionists“) organisierten.
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Ähnlich im letzten Jahr in Amerika Gemeint ist der von Joseph Chamberlain 1877 in Birmingham gegründete, als „Birmingham Caucus“ bezeichnete Dachverband der liberalen Ortsvereine („National Liberal Federation“), der einen von der Parteiorganisation gestützten Wahlkampf erlaubte und William Ewart Gladstone bereits 1880 zum Wahlsieg verholfen hatte. Trotz der gescheiterten Home-Rule-Vorlage von 1886 und der Abspaltung des von Chamberlain geführten radikalen Flügels unterstützte der Dachverband Gladstone im Wahlkampf des Jahres 1886, der mit einer schweren Niederlage der Liberalen endete.
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.In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) 1912.
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Weber bezieht sich hier auf die Niederlage der Republikaner in den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1912. Vgl. dazu die Erläuterungen oben, S. 506, Anm. 57.
Es ist zuzugeben, daß für das Maß von Chancen, welche das Charisma im Kampf mit der Bürokratie in einer Partei hat, deren allgemeiner Charakter nicht bedeutungslos sein kann. Je nachdem sie eine einfache „gesinnungslose“, d. h. ihr Programm nach den Chancen des einzelnen Wahlkampfs ad hoc formende Gefolgschaftspartei von Stellenjägern ist, oder vorwiegend eine rein ständische Honoratioren- oder eine Klassenpartei oder ob sie in stärkerem Maße den Cha[513]rakter einer ideellen „Programm“- und „Weltanschauungspartei“ wahrt – Gegensätze, die natürlich stets relativ sind –[,] ist die Chance des Charisma sehr verschieden groß, in gewissen Hinsichten am größten beim Vorwiegen des erstgenannten Charakters, welcher eindrucksvollen Persönlichkeiten die Gewinnung der nötigen Gefolgschaft ceteris paribus weit leichter macht als die kleinbürgerliche Honoratiorenorganisation der deutschen, zumal der liberalen Parteien mit ihren ein für allemal festen „Programmen“ und „Weltanschauungen“, deren Anpassung an die jeweiligen demagogischen Chancen jedesmal eine Katastrophe bedeuten kann. Aber etwas allgemeines läßt sich darüber wohl nicht aussagen. „Eigengesetzlichkeit“ der Parteitechnik und ökonomische und soziale Bedingungen des konkreten Falls sind dazu im Einzelfall in zu intimer Verbindung wirksam.
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[513] q(ab S. 507: Das allgemeine Schicksal)–q Petitdruck in A.
Wie diese Beispiele zeigen, gibt es charismatische Herrschaft keineswegs lediglich auf primitiven Entwicklungsstufen, wie denn überhaupt die drei Grundtypen der Herrschaftsstruktur nicht einfach hintereinander in eine Entwicklungslinie eingestellt werden können, sondern miteinander in der mannigfachsten Art kombiniert auftreten. Allerdings aber ist es das Schicksal des Charisma, mit zunehmender Entwicklung institutioneller Dauergebilde zurückzutreten. In den uns zugänglichen Anfängen von Gemeinschaftsverhältnissen tritt jede Gemeinschaftsaktion, welche über den Bereich der traditionellen Bedarfsdeckung in der Hauswirtschaft hinausgeht, in charismatischer Struktur auf. Der primitive Mensch sieht in allen Einflüssen, die von außen her sein Leben bestimmen, die Wirkung spezifischer Gewalten, welche den Dingen, toten ebenso wie lebenden[,] und den Menschen, abgeschiedenen ebenso wie lebendigen, eigen sind und ihnen Macht geben, zu nützen oder zu schaden. Der ganze Begriffsapparat primitiver Völker, einschließlich ihrer Natur- und Tierfabeln[,] geht von solchen Voraussetzungen aus. Die Begriffe mana
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und oren[514]da[513] Der Begriff „mana“ gehört dem melanesischen Kulturkreis an. Der britische Ethnologe Robert Henry Codrington definierte „mana“ als übernatürliche, unpersönliche und spirituelle Macht, auf welcher nach den religiösen Vorstellungen der Melanesier der soziale und politische Einfluß der Dorfhäuptlinge beruhte. Vgl. Codrington, Robert Henry, The Melanesiens. Studies in their Anthropology and Folk-Lore. – Oxford: Clarendon Press 1891, S. 56 f., 118 f., sowie Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 122 mit Anm. 3.
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und ähnliche, deren Bedeutung die Ethnographie lehrt, bezeichnen solche spezifischen Gewalten, deren „Übernatürlichkeit“ ausschließlich darin besteht, daß sie nicht jedermann zugänglich, sondern an ihren persönlichen oder sachlichen Träger geknüpft sind. Magische und Heldenqualitäten sind nur besonders wichtige Fälle solcher spezifischen Gewalten. Jedes aus dem Gleise des Alltags herausfallende Ereignis läßt charismatische Gewalten, jede außergewöhnliche Fähigkeit charismatischen Glauben aufflammen, der dann im Alltag an Bedeutung wieder verliert. In normalen Zeiten ist die Gewalt des Dorfhäuptlings außerordentlich gering, fast nur schiedsrichterlich und repräsentativ. Ein eigentliches Recht ihn abzusetzen, schreiben sich die Teilhaber der Gemeinschaft zwar im allgemeinen nicht zu, denn seine Gewalt war durch Charisma, und nicht durch Wahl begründet. Aber man läßt ihn eventuell unbedenklich im Stich und siedelt sich anderweit an. Eine Verschmähung des Königs wegen mangelnder charismatischer Qualifikation kommt in dieser Art noch bei den germanischen Stämmen vor.[514] Der Begriff „orenda“ entstammt der Sprache der nordamerikanischen Irokesenstämme. Nach Hewitt, John Napoleon Brinton, Orenda and a Definition of Religion, in: The American Anthropologist, New Series, Vol. 4, No. 1, 1902, S. 33–46, bezeichnete „orenda“ eine „mystic potence“, „the property of all things, all bodies, and by the inchoate mentation of man is regarded as the efficient cause of all phenomena, all the activities of his environment.“ (ebd., S. 36 f.).
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Eine nur durch die gedankenlose, oder irgendwelche unbestimmten Folgen von Neuerungen scheuende, Innehaltung des faktisch Gewohnten Germanische Könige, die dem Willen des Volkes zuwiderhandelten, politisch ungeschickt waren, sich, durch Mißernten oder Kriegsunglück offenbart, den Zorn der Götter zugezogen hatten, wurden „formlos“, d. h. ohne Gerichtsverfahren, fallengelassen, verjagt oder getötet. Vgl. Kern, Fritz, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie. – Leipzig: K. F. Koehler 1914, S. 169–178, 376–385 (hinfort: Kern, Gottesgnadentum).
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regulierte Anarchie kann fast als der Normalzustand primitiver Gemeinschaften angesehen werden. Und ähnlich steht es im normalen Alltag mit der sozialen Gewalt der Zauberer. Aber jedes besondere Ereignis: große Jagdzüge, Dürre oder anderweite Bedrohung durch den Zorn der Dämonen, vor allem aber kriegerische Gefährdung, lassen sofort das Charisma des Helden oder Zauberers in Funktion treten. Der charismatische Jagd- und Kriegsführer steht sehr oft als eine Sondergestalt neben dem Friedenshäuptling, der vornehmlich ökonomische und daneben [515]etwa schiedsrichterliche Funktion hat. Wird die Be[A 771]einflussung der Götter und Dämonen Gegenstand eines Dauerkultus, so entsteht aus dem charismatischen Propheten und Zauberer der Priester. Wird der Kriegszustand chronisch und nötigt die technische Entwicklung der Kriegsführung zu systematischer Übung und Aushebung der wehrhaften Mannschaft, so wird aus dem charismatischen Heerführer der König. Die fränkischen Königsbeamten: Graf und Sakebaro sind ursprünglich Militär- und Finanzbeamte, alles andere, insbesondere die zunächst ganz dem alten charismatischen Volksschiedsrichter verbliebene Rechtspflege[,] kam erst später dazu.[514]A: Gewohnten,
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Die Entstehung eines Kriegsfürstentums[515] Die vom fränkischen König eingesetzten Grafen und Sacebaronen (Schultheissen) hatten die Aufgabe, die von Gerichtsversammlungen verhängten Bußzahlungen an den königlichen Fiskus einzutreiben oder entgegenzunehmen. Weber folgt hier einer Forschungsthese von Rudolph Sohm, Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung (wie oben, S. 18, Anm. 11), S. 74–101, der den Grafen bzw. den Sacebaro als königliche Beamte und Teil des „königlichen Regierungsorganismus“ betrachtete (ebd., S. 83). Im Gegensatz zur vorherrschenden mediävistischen Lehrmeinung der Zeit hatten sie demnach ursprünglich keine gerichtliche Funktion, sondern waren auf der Verwaltungsebene des pagus (Gau) bzw. des Hundertschaftsverbandes nur „Bußeinforderer im Namen des Königs“ (ebd., S. 92). Anders als die vom Volk getragenen Gerichtsversammlungen des pagus oder der Hundertschaften fällten sie keine Urteile. Als „Regierungsbeamte“ verfügten sie in fränkischer Zeit lediglich über die „Executionsbefugniss“, die von der „Gerichtsgewalt“ getrennt war (ebd., S. 99).
b
als Dauergebilde und mit einem Dauerapparat bedeutet gegenüber dem Häuptling, der je nachdem bald mehr ökonomische Funktionen im Interesse der Gemeinwirtschaft und der Wirtschaftsregulierung des Dorfs oder der Markgemeinde,[515]A: Kriegsfürstentum
c
bald mehr magische (kultische oder ärztliche)[,] bald mehr richterliche (ursprünglich: schiedsrichterliche) Funktionen hat, denjenigen entscheidenden Schritt, an welchen man zweckmäßiger Weise den Begriff Königtum und Staat anknüpft. Dagegen ist es willkürlich, Königtum und Staat, in Anlehnung an Vorstellungen Nietzsches[,]A: Marktgemeinde,
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damit beginnen zu lassen, daß ein siegreicher Stamm einen anderen unterwirft und nun einen Dauerapparat schafft, um ihn in Abhängigkeit und Abga[516]bepflichtigkeit zu halten. Denn genau die gleiche Differenzierung von wehrhaften und abgabefreien Kriegern und Wehrlosen und abgabepflichtigen Ungenossen derselben kann sich – nicht notwendig in der Form patrimonialer Abhängigkeit der letzteren, sondern sehr häufig ohne dieselbe – sehr leicht auch innerhalb jedes Stammes entwickeln, der chronisch kriegsbedroht ist. Die Gefolgschaft eines Häuptlings kann sich dann zu einer militärischen Zunft zusammenschließen und politische Herrenrechte ausüben, so daß eine Aristokratie feudalen Gepräges entsteht, oder der Häuptling kann zunehmend Gefolge in seinen Sold nehmen, zunächst um Beutezüge zu machen, dann um die eigenen Volksgenossen zu beherrschen, wofür es ebenfalls Beispiele gibt. Richtig ist nur: daß das normale Königtum das zu einem Dauergebilde gewordene charismatische Kriegsfürstentum ist, mit einem Herrschaftsapparat zur Domestikation der unbewehrten Max Weber bezieht sich auf Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 79. Dort heißt es zur Entstehung des Staates: „Zweitens aber, daß die Einfügung einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende geführt wurde, – daß der älteste ‚Staat‘ demgemäß als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis ein Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war.“
d
Gewaltunterworfenen. Freilich und ganz naturgemäß wird dieser Apparat am straffsten entwickelt auf fremdem Eroberungsgebiet, wo die ständige Bedrohung der Herrenschicht dies gebietet. Die normannischen Staaten, vor allem England, waren nicht zufällig die einzigen Feudalstaaten des Okzidents mit einer wirklich zentralisierten und technisch hoch entwickelten Verwaltung,[516]A: unbewährten
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und das gleiche gilt für die arabischen, sassanidischen und türkischen Kriegerstaaten, die auf erobertem Gebiete am straffsten organisiert waren. Ganz ebenso übrigens auf dem Gebiet der hierokratischen Gewalt. Die straff organisierte Zentralisation der katholischen Kirche hat sich auf dem Missionsgebiet des Okzidents entwickelt[516] Ähnlich wie in der Normandie und Sizilien erreichten die Normannenkönige nach der Eroberung Englands in der Schlacht von Hastings (1066) unter Wilhelm dem Eroberer und seinen Nachfolgern – wie Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 191, Anm. 66), S. 18, schreibt – eine „straffe Unterordnung“ der angelsächsischen Barone „unter die Königsgewalt“. Sie vereinfachten das „Feudalwesen“, indem sie Heeres-, Finanz- und Lokalverwaltungen sowie das Gerichtswesen zentralisierten (ebd., S. 11) und die „Mitwirkung der Feudalbarone an der Staatsverwaltung“ durch den Einsatz königlicher Beamter zurückdrängten (ebd., S. 17).
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und nach der Vernichtung der histori[517]schen kirchlichen Lokalgewalten durch die Revolution Max Weber meint hier vermutlich das Zusammenspiel von Papsttum, Mönchtum und Königtum beim Ausbau der fränkischen Kirche im 8. Jahrhundert, insbesondere die Kloster- und Bistumsgründungen des mit der „Germanenmission“ beauftragten Mönchs Bonifatius († 754) sowie die Verbreitung der Benediktinerregel, die die strenge Klosterhierarchie vorschrieb.
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ihre Vollendung erreicht: Als „ecclesia militans“[517] Weber spielt hier auf die Entwicklung des Verhältnisses von bischöflicher und päpstlicher Gewalt seit der französischen Revolution von 1789 an. Durch die Säkularisationen von Kirchengütern und personelle Umstrukturierungen der Episkopate (etwa im Gefolge des französischen Konkordats von 1801) gelang es den Päpsten im 19. Jahrhundert in zunehmendem Maße, nationalkirchliche Bestrebungen (in Frankreich den Gallikanismus) und das Episkopalsystem so weit zurückzudrängen, daß schließlich mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) die Selbständigkeit der Diözesanbischöfe rechtlich zugunsten eines päpstlichen Universalepiskopats aufgehoben werden konnte.
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hat die Kirche sich ihren technischen Apparat geschaffen. Aber Königs- und Hohepriestergewalt an sich gibt es auch ohne Eroberung und Mission, wenn man den institutionellen Dauercharakter der Herrschaft und also das Vorhandensein eines kontinuierlichen Herrschaftsapparats, sei er nun bürokratischen, patrimonialen oder feudalen Charakters, als das entscheidende Merkmal ansieht. – Lateinisch für die „streitende Kirche“.
Während all das, was wir bisher als mögliche Konsequenzen der Veralltäglichung des Charisma betrachtet haben, dessen streng an die konkrete Person gebundenen Charakter unberührt ließ, haben wir uns nun Erscheinungen zuzuwenden, deren gemeinsames Merkmal eine eigentümliche Versachlichung des Charisma darstellt. Aus einer streng persönlichen Gnadengabe wird es dabei eine Qualität, die entweder 1. übertragbar oder 2. persönlich erwerbbar oder 3. nicht an eine Person als solche, sondern an den Inhaber eines Amts oder an ein institutionelles Gebilde ohne Ansehen der Person geknüpft ist. Dabei noch von Charisma zu sprechen[,] rechtfertigt sich nur dadurch, daß stets der Charakter des Außergewöhnlichen,
e
nicht jedermann Zugänglichen,[517]A: außergewöhnlichen,
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den Qualitäten der charismatisch Beherrschten gegenüber prinzipiell PräeminentenA: zugänglichen,
g
[A 772]erhalten bleibt und daß es eben hierdurch für diejenige soziale Funktion tauglich ist, zu der es Verwendung findet. Aber natürlich bedeutet gerade diese Form des Hineinströmens des Charisma in den Alltag, seine Umwandlung in ein Dauergebilde, die tiefgreifendste Umgestaltung seines Wesens und seiner Wirkungsart. A: präeminenten
Der geläufigste Fall einer Versachlichung des Charisma ist der Glaube an seine Übertragbarkeit durch das Band des Blutes. Die [518]Sehnsucht der Jünger oder Gefolgen und der charismatisch beherrschten Gemeinde nach einer Verewigung des Charisma wird so auf die einfachste Weise gestillt. Dabei ist der Gedanke an ein eigentliches individuelles Erbrecht hier noch ebenso fern zu halten, wie er der Struktur der Hausgemeinschaft ursprünglich überhaupt fehlt. An Stelle des Erbrechts steht einfach die Unsterblichkeit der perennierenden Hausgemeinschaft als Trägerin des Besitzes gegenüber den wechselnden Einzelnen. Auch bei der Erblichkeit des Charisma handelt es sich ursprünglich darum, daß es an eine Hausgemeinschaft und Sippe geheftet ist, welche ein für allemal als magisch begnadet
h
gilt, derart, daß nur aus ihrem Kreise die Träger des Charisma hervorgehen können. Die Vorstellung ist an sich so naheliegend, daß ihre Entstehung kaum nach besonderer Erklärung verlangt. Das als dergestalt begnadet[518]A: begnadigt
i
angesehene Haus wird dadurch mächtig über alle andern hinausgehoben, und der Glaube an diese spezifische, auf natürlichem Wege nicht erreichbare, also charismatische Qualifikation ist überall die Grundlage der Entwicklung von Königs- und Adelsmacht gewesen. Denn wie das Charisma des Herrn an sein Haus, so heftet sich dasjenige der Jünger und Gefolgsleute an deren Häuser. Die Kobetsu,A: begnadigt
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die (angeblich) aus dem Haus (uji)[518] Der japanische Ausdruck „kōbetsu“ wurde von Fukuda, Japan (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 2, frei als „kaiserliches Blut“ übersetzt. In der japanischen Mythologie bezeichnet er die direkten Nachkommen der Sonnengöttin Amaterasu Ōmikami, die seit dem ersten Kaiser Jimmu einen eigenen Unterstamm bildeten. Diese Abstammungsmythologie diente dem Staatsshintoismus der Meiji-Zeit (1868–1912) als Mittel der Herrschaftslegitimierung. Die nachfolgenden Ausführungen Max Webers über die vorhistorische Zeit Japans weisen starke Parallelen zu der Dissertation von Tokuzo Fukuda auf, der von Lujo Brentano promoviert worden war.
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des japanischen charismatischen Herrschers Jimmu-Tennô „uji“ wurde zur Zeit Max Webers oft als „Geschlecht“ oder „Clan“ übersetzt. Es handelte sich um einen Sippenverband, der „durch wirkliche oder fiktive Blutsbande mit einem Haupt-Ahnengeschlecht verbunden und durch die patriarchalische Macht des Sippenoberhauptes zusammengehalten“ wurde. Vgl. Hall, Japanisches Kaiserreich (wie oben, S. 114. Anm. 92), S. 34.
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stammenden Familien, erscheinen als dauernd spezifisch begnadet [519]und behalten diesen Vorrang vor den anderen uji, unter denen die Shimbetsu, Jimmu-Tennō setzt sich aus den beiden Titeln „göttlicher Krieger“ und „Himmelskönig“ oder „himmlischer Herrscher“ zusammen. Es handelt sich um eine postume, unter chinesischem Einfluß aufgekommene Bezeichnung für Kamu Yamato Iware Hiko, der als erster Kaiser der Japaner gilt und am 11. Februar 660 v. Chr. den Thron bestiegen haben soll. Vgl. ebd., S. 33.
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das heißt die Häuser der Gefolgsleute jenes Herrschers, die (angeblich) mit ihm eingewanderten Fremden ebenso wie die von ihm in sein Gefolge eingegliederten alteinheimischen Geschlechter, den charismatischen Adel bilden. Dieser verteilt die Verwaltungsfunktionen unter sich. Die beiden Sippen der Muraji[519] „Shimbetsu“, von Fukuda, Japan (wie oben, S. 36, Anm. 45), S. 2, frei als „göttliches Blut“ übersetzt, ist eine Sammelbezeichnung für die Geschlechter der Tenjin und Chigi. Die Tenjin wanderten angeblich mit den „kōbetsu“ (vgl. oben, S. 518, Anm. 82) in Japan ein und unterstützten deren Kriegszug. Die bereits ansässigen Chigi unterwarfen sich den „kōbetsu“. Die „shimbetsu“ standen dem kaiserlichen Haus am nächsten.
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und der Omi „Muraji“, wörtlich: „Herr der Gruppe“ oder „Haupt der Schar“, hießen zunächst die Häuptlinge der großen Sippenverbände der „shimbetsu“ (vgl. oben, Anm. 85). Später bezeichnete „Muraji“ – wie Weber den Begriff hier auch verwendet – die nicht-kaiserlichen Adelsgeschlechter der altjapanischen Gesellschaft.
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standen charismatisch im Range obenan. Innerhalb ihrer wie aller anderen Sippen wiederholt sich dann beim Zerfall der Hausgemeinschaften stets das Gleiche: ein Haus der Sippe gilt als das große (O = Oho) „Omi“, wörtlich: „der Große“, war ursprünglich die Bezeichnung für die Häuptlinge der großen Sippenverbände der „kōbetsu“ (vgl. oben, S. 518, Anm. 82), dann für die mit dem Kaiserhaus verwandten Adelsgeschlechter.
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Haus: die Häuser O Muraji und O Omi „Ō“ wird im Japanischen als respektbezeugendes Präfix verwendet; es wird wie „oho“ ausgesprochen.
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insbesondre sind die Träger des spezifischen Charisma ihrer Sippe, und ihre Hausvorstände beanspruchen daher das Anrecht auf die entsprechenden Stellungen bei Hof und innerhalb der politischen Gemeinschaft. Alle berufsständische Gliederung bis hinab zu den letzten Handwerkern ist oder gilt, wo das Prinzip voll durchgeführt wird, wenigstens theoretisch, als ruhend auf der gleichen Bindung je eines spezifischen Charisma an bestimmte Sippen und des Vorstandsrechtes in der Sippe an deren charismatisch bevorzugtes („großes“) Haus. Alle politische Gliederung des Staats ist eine solche nach Geschlechtern und deren Anhang und territorialem Besitzstand. Dieser Zustand des reinen „Geschlechterstaats“ Bei den Omi und Muraji stand jeweils ein „uji“ (vgl. oben, S. 518, Anm. 83) an der Spitze, das erblich war. Die Häuptlinge dieses Haupthauses trugen den Titel „Ō-omi“ und „Ō-muraji“ und dienten bis in das 7. Jahrhundert n. Chr. dem japanischen Kaiser als oberste Staatsminister.
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ist von jeder Art von Le[520]hensstaat, Patrimonialstaat oder Amtsstaat mit erblichen Ämtern, so flüssig in der Realität des Historischen Als „Geschlechterstaat“ bezeichnet Rathgen, Staat der Japaner (wie oben, S. 59, Anm. 60), S. 32, die Zeit von der Vorgeschichte Japans bis zum 7. Jahrhundert n. Chr.
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die Übergänge sind, dennoch als Typus streng zu scheiden. Denn nicht irgendeine persönliche Treuebeziehung kraft Beleihung mit Vermögensobjekten oder Ämtern ist der „Legitimitäts“-Grund der Rechte der einzelnen Geschlechter auf ihre Funktionen, sondern das den einzelnen Häusern selbständig eigene besondere Charisma. Wie schon früher erwähnt,[520]A: historischen
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hat der Übergang von hier aus zum Lehensstaat sehr regelmäßig – auf seiten des Herren – gerade das Motiv, mit der „Eigen-Legitimität“ dieser Geschlechterrechte ein Ende zu machen und eine von ihm, dem Herren, abgeleitete Lehens-Legitimität an deren Stelle zu setzen. [520] Siehe den Text „Feudalismus“, oben, S. 397; dort (Anm. 53) mit einem Vorverweis auf die Behandlung der gentilcharismatischen Ordnung am Beispiel Japans.
Ob der Reinheit des Typus die Realität je gänzlich entsprach, interessiert hier nicht, es genügt, daß das Prinzip in mehr oder minder entwickelter oder rudimentärer Form bei den allerverschiedensten Volksstämmen wiederkehrt und in Resten in die Struktur noch der historischen Antike (Blutsvorrecht der Eteobutaden
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in Athen [A 773]– als Kehrseite: Disqualifikation der Alkmaioniden durch Blutschuld) Die Eteobutaden waren ein athenisches Adelsgeschlecht, das seine Genealogie bis auf die altattisch-ionische Sagengestalt Butes zuruckführte. Es verfügte über das erbliche Priestertum des Poseidon Erechtheus im Erechtheion und stellte in der weiblichen Linie die Polias-Priesterinnen.
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ebenso hineinragt wie in das germanische Altertum. Die Alkmaioniden waren eines der angesehensten attischen Adelsgeschlechter und spielten in der Verfassungsgeschichte Athens eine führende Rolle. Um 632 v. Chr. ließ der Alkmaionide Megakles als Archont die Anhänger des aufständischen Kylon niedermetzeln, obwohl ihnen, an den Altar der Athena Polias geflüchtet, das Leben versprochen worden war. Das Geschlecht der Alkmaioniden wurde wegen dieser Blutschuld verbannt.
Die Regel ist in historischer Zeit freilich eine weit weniger konsequente Durchführung des haus- und gentilcharismatischen Prinzips. Sowohl auf den primitivsten wie auf den höchsten Kulturstufen besteht im allgemeinen nur das charismatische Vorrecht des politischen Herrscherhauses und eventuell einer eng begrenzten Zahl anderer mächtiger Geschlechter. Das Charisma des Zauberers, Regenmachers, Medizinmanns, Priesters ist, wenn es nicht mit politischen Her[521]renrechten in der gleichen Person vereinigt ist, in primitiven Verhältnissen weit weniger häufig hauscharismatisch gebunden, und erst die Entwicklung eines regulären Kultus gibt regelmäßig den Anlaß zu jener gentilcharismatischen Bindung von bestimmten Priestertümern an Adelsgeschlechter, die dann so überaus häufig ist und auf die Vererblichung anderer Charismen zurückwirkt. Mit der steigenden Wertung des physiologischen Blutbandes beginnt dann regelmäßig der Prozeß der Vergöttlichung zunächst der Ahnen, schließlich, wenn die Entwicklung ungehemmt weitergeht, auch des jeweiligen Herrn selbst, von deren Konsequenzen weiterhin noch die Rede sein muß.
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[521] Siehe den Text „Erhaltung des Charisma“, unten, S. 559–563, und den Text „Staat und Hierokratie“, unten, S. 579 f. Vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, oben, S. 478.
Das bloße Gentilcharisma als solches garantiert nun aber noch nicht die Eindeutigkeit der persönlichen Berufung zum Nachfolger. Dafür ist eine bestimmte Erbordnung nötig, und damit diese entsteht, muß zu dem Glauben an die charismatische Bedeutung des Blutes als solchem der weitere Glaube an das spezifische Charisma der Erstgeburt treten. Denn alle anderen Systeme, auch das im Orient öfter vorkommende Seniorat, führt zu wilden Palastintriguen und -revolutionen,
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vollends wenn Polygamie herrscht und so neben das Interesse des Herren, etwaige andre Thronanwärter zugunsten eigner Abkömmlinge zu beseitigen, noch der Kampf der Weiber um die Erbfolge ihrer Kinder tritt. Das einfache Primogeniturprinzip pflegt in einem Lehensstaat durch die Notwendigkeit[,] die Teilung des erblich gewordenen Lehens im Interesse seiner Prästationsfähigkeit an Schranken zu binden, zuerst für die Lehensträger entwickelt und dann von ihm aus auf die oberste Spitze sozusagen zurückprojiziert zu werden. So geschah es im Okzident mit fortschreitender Feudalisierung. Im Patrimonialstaat, sei es orientalischen, sei es merowingischen Gepräges, ist die Geltung des Primogeniturprinzips weit unsicherer. Fehlt es, so besteht die Alternative: Erbteilung der politischen Gewalt wie jedes andren Besitztums des patrimonialen Herren oder Auswahl des Nachfolgers auf einem geordneten Wege: Gottesgericht (Zweikampf der Söhne, der sich bei primitiven Völkern mehrfach findet), Losorakel (das heißt praktisch: priesterliche Aus[522]wahl: so bei den Juden seit Josia[521]A: -Revolutionen,
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)[522]A: Josua
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oder endlich die reguläre Form der charismatischen Kreierung: Auswahl des Qualifizierten durch Vorwahl und Akklamation durch Gefolgschaft und Volk, ein Vorgehen, welches in diesem Fall freilich noch mehr als sonst die Gefahr von Doppelwahlen und Kämpfen in sich birgt. In jedem Fall aber ist die Herrschaft der Monogamie als allein legitime Eheform eine der wichtigsten Grundlagen einer geordneten Kontinuität der Monarchengewalt gewesen und den Monarchien des Okzidents im Gegensatz zu den Zuständen des Orients zugute gekommen, bei denen der Gedanke an den bevorstehenden oder möglichen Thronwechsel die gesamte Verwaltung in Atem hält und der Thronwechsel jedesmal die Chance einer Katastrophe des Staatswesens mit sich bringt. Der Glaube an die Erblichkeit des Charisma gehört überhaupt zu jenen Bedingungen, welche die allergrößten „Zufälligkeiten“ in den Bestand und die Struktur von Herrschaftsgebilden hineingetragen haben, um so mehr, als das Erblichkeitsprinzip mit anderen Formen der Nachfolgerdesignation in Konkurrenz geraten kann. Daß Muhammed ohne männliche Nachkommen starb und daß seine Gefolgschaft den Khalifat nicht auf Erbcharisma gründete, ja, in der Ommaijadenzeit, ihn direkt antitheokratisch entwickelte,[522] Gemeint ist König Josia von Juda (nicht: Josua, wie es im überlieferten Text hieß). Josia war durch die tributäre Abhängigkeit von Assyrien politisch soweit geschwächt worden, daß 622 v. Chr. die städtische Priesterschaft Jerusalems eine weitreichende Reform des Jahwekultes und der Gesetze des Reiches im Sinne des mosaischen Deuteronomiums durchsetzte. Die Legitimität des Königs wurde nun „an die Befragung des Loosorakels durch die jerusalemitische Priesterschaft geknüpft“. Vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, Zitat: S. 93, sowie unten, S. 590.
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hat für die Struktur des Islam die allertiefstgehenden Konsequenzen gehabt; der auf das Erbcharisma der Familie Alis bauende Schiitismus mit seiner Konsequenz eines mit unfehlbarer Lehrautorität ausgestatteten „Imam“ In der Ommaijadenzeit (vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 797) wurde das dynastische Prinzip durchgesetzt. Der Kalif galt nicht mehr als Nachfolger des Propheten Mohammed, sondern als unmittelbarer Stellvertreter Gottes, der mit richterlicher, administrativer und militärischer Gewalt ausgestattet war. Der weiter bestehende Gefolgschaftseid hatte nur formalen Charakter, da von den Untertanen unbedingter Gehorsam gegenüber der Dynastie verlangt wurde.
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[523]steht dem auf Tradition und „Idschma“ (consensus ecclesiae) Hier bezieht sich Weber auf den „Imam“ im Sinn der Schiiten, der nur dann als solcher anerkannt wurde, wenn er als ein Nachkomme des Schwiegersohns und Neffen des Propheten Mohammed, des vierten Kalifen ‘Alī b. Abī Ṭālib (um 600–661), galt. Vgl. Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 61, Anm. 80), S. 239 ff.
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[A 774]ruhenden orthodoxen Sunnitismus in erster Linie auf Grund jener Differenzen über die Herrscherqualifikationen so schroff gegenüber. Die Beseitigung der Familie Jesu und ihrer anfänglich bedeutenden Stellung in der Gemeinde ist offenbar schmerzloser gelungen.[523] „Ischma“ (Tl.: iğmāʿ, idjma) bezeichnet im Arabischen die „Übereinkunft“, die „Übereinstimmung“, den „einmütigen Beschluß“ und gilt als einer der vier Grundpfeiler des muslimischen Glaubens. Ignaz Goldziher interpretiert „idschmāʿ“ – so seine Transliteration – als unfehlbaren „consensus ecclesiae“. (Vgl. Goldziher, ebd., S. 54). Demnach ist unter dem „Idschma“ der sunnitischen Orthodoxie „die übereinstimmende Lehre und Meinung der in einer bestimmten Zeit anerkannten Religionsgelehrten des Islams“ zu verstehen (ebd., S. 56).
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Das Aussterben der deutschen Karolinger Verwandte Jesu spielten im ersten Jahrhundert in der jerusalemischen Urgemeinde und an der Spitze einiger judenchristlicher Gemeinden Palästinas führende Rollen. Nach Harnack, Kirchenverfassung (wie oben, S. 40, Anm. 67), S. 24–30, verfügte Jakobus, der „Bruder des Herrn“, über eine „monarchische Gewalt“ (ebd., S. 26) in der Urgemeinde. In dieser Zeit sei, so Harnack, die Verfassung der urchristlichen Gemeinden noch an jüdischen Traditionen orientiert gewesen. Mit der erfolgreichen Heidenmission und nach der Ermordung des Jakobus im Jahre 62 sei der Einfluß der Familie Jesu verblaßt. Völlig aufgehoben wurde er durch die Zerstörung Jerusalems, dem judenchristlichen Zentrum der frühen Kirche. Vgl. auch Weizsäcker, Carl, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, 3. Aufl. – Freiburg i. Br.: J.C.B. Mohr 1902, S. 344.
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und dann der nachfolgenden Königsgeschlechter, fast stets in dem Augenblick, wo das Erbcharisma vielleicht die Kraft hätte gewinnen können, das von dem Fürsten in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht in den Hintergrund zu drängen, im Gegensatz zu Frankreich und England, ist für den Verfall der deutschen Königsmacht im Gegensatz zu der Stärkung der französischen und englischen von außerordentlicher Tragweite gewesen und hat historisch vermutlich weittragendere Folgen gehabt als selbst das Schicksal der Familie Alexanders. Die ostfränkische Linie der Karolinger starb mit Ludwig dem Kind im Jahre 911 aus.
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Dagegen ist umge[524]kehrt, was von den römischen Cäsaren der drei ersten Jahrhunderte hervorragend qualifiziert war, fast ohne Ausnahme nicht durch Blutsband, sondern durch Nachfolgerdesignation in Form der Adoption auf den Thron gekommen Alexander d.Gr. hinterließ nach seinem Tod im Jahre 323 v. Chr. keinen mündigen Thronerben und Nachfolger für das von ihm errichtete Weltreich. Gemäß dem von der makedonischen Heeresversammlung getroffenen Kompromiß wurde der Königstitel sowohl Philippos Arrhidaios, dem geistig kranken Sohn von Alexanders Halbbruder, als auch dem kurz darauf geborenen Sohn Alexanders zuerkannt. Die Verweserschaft für Königtum und Reich wurde ebenso wie die Verwaltung der bedeutendsten Satrapien einzelnen, hervorragenden Feldherren Alexanders übertragen, die in den nun einsetzenden Diadochenkämpfen (vgl. oben, S. 341 f. mit Anm. 57) in wechselnden Koalitionen den Ausbau ihrer Machtstellung anstrebten. Im Kampf zwischen beiden Linien des Königshauses wurde Philippos Arrhidaios 317 v. Chr. auf Geheiß von Olympias, der Mutter Alexanders d.Gr. und Protektorin ihres Enkels Alexander, ermordet. Sie wurde daraufhin auf Betreiben von Philippos’ Frau und deren Verbündeten hingerichtet. Aus [524]Furcht vor dem rechtmäßigem Thronanspruch ließ der Reichsregent Kassandros den heranwachsenden Alexander 310/9 v. Chr. umbringen. Mit der Ermordung des Herakles im Jahre 309 v. Chr., eines illegitimen Sohnes Alexanders d.Gr., war auch der letzte männliche Prätendent beseitigt. Vgl. Beloch, Griechische Geschichte III,1 (wie oben, S. 172, Anm. 29), S. 67 ff.
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und haben die kraft Blutsbandes zum Thron Berufenen in ihrer überwältigenden Mehrzahl die Gewalt geschwächt. Dies hängt offensichtlich mit der abweichenden Struktur der politischen Gewalt in Feudalstaaten einerseits, in einem zunehmend bürokratisch regierten, dabei aber auf der ausschlaggebenden Rolle eines stehenden Heeres und seiner Offiziere ruhenden Staatswesen andrerseits zusammen. Wir verfolgen das hier nicht näher. Vgl. dazu oben, S. 496, Anm. 30.
Nachdem einmal der Glaube an die Gebundenheit des Charisma an das Blutsband gegeben ist, kehrt sich dessen ganze Bedeutung um. Wo ursprünglich die eigene Tat nobilitierte, wird nun der Mann nur noch durch Taten seiner Vorfahren „legitimiert“. Zur römischen Nobilität gehört, nicht wer selbst, sondern wessen Vorfahren ein nobilitierendes Amt innehatten,
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und das Bestreben des so umschriebenen Amtsadels geht dahin, die Ämter innerhalb dieses Kreises zu monopolisieren. Diese Entwicklung, die Umkehrung des genuinen Charisma in sein gerades Gegenteil, verläuft überall nach dem gleichen Schema. Während die genuin amerikanische (puritanische) Denkweise den selfmademan, der selbst sein Vermögen „gemacht“ hatte, als Träger des Charisma glorifizierte, der bloße „Erbe“ als solcher aber nichts galt, kehrt sich diese Empfindung jetzt vor unsern Augen in ihr Gegenteil um und gilt nur noch die Abkunft – von den Pilgrim Fathers, von der Pocahontas, von den Knickerbockers[524]A: innehatte,
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– [525]oder die Zugehörigkeit zu den einmal rezipierten Familien (relativ) „alten“ Reichtums. Die Schließung der Adelsbücher, die Ahnenproben, die Zulassung des Neureichtums nur als „gentes minores“ Es geht hier um die „wirklichen und angeblichen Abkömmlinge“ – wie Weber in „‚Klassen‘, ‚Stände‘ und ‚Parteien‘“ (MWG I/22-1, S. 261) schreibt – herausragender Persönlichkeiten und Siedlergruppen an der Ostküste und im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika. Als „Pilgrim Fathers“ werden seit dem 19. Jahrhundert die ersten 102 Siedler der „Mayflower“ bezeichnet, die sich 1620 in Neuengland (Plymouth, Mass.) niederließen. Von der legendenumwobenen Indianerprinzessin Pocahontas (vgl. den Eintrag im Personenverzeichnis, unten, S. 774) leiteten einige Familien Virginias ihre [525]Herkunft ab. Als „Knickerbockers“ wurden, in Anlehnung an den von Washington Irving fingierten niederländischen Verfasser der humoristischen Abhandlung Diedrich Knickkerbocker: History of New York, from the Beginning of the World to the End of the Dutch Dynasty. – New York: Inskeep & Bradford 1809, die Abkömmlinge der ersten niederländischen Siedler der Insel Manhattan bezeichnet.
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und alle derartigen Erscheinungen sind alle in gleichem Maße Produkte des Bestrebens, das soziale Prestige durch Schaffung eines Seltenheitsmonopols zu steigern. Von ökonomischen Motiven spielt neben der Monopolisierung direkt oder indirekt einträglicher Staatsstellungen oder andrer sozialer Beziehungen zu der dehnbaren Staatsmacht vor allem die Monopolisierung des connubiums: die durch die Nobilität gegebene Vorzugschance auf die Hand reicher Erbinnen und die Steigerung der Nachfrage nach der Hand der eignen Töchter mit. – Max Weber spielt hier auf die Geschichte des römischen Adels und die Erweiterung des Senats durch König Lucius Tarquinius Priscus (ca. 616–578 v. Chr.) an. Im Gegensatz zu den Adelsgeschlechtern, die von Beginn an im Senat gesessen hatten („gentes maiores“), bezeichneten die Forscher die neu in den Senat berufenen – in Anlehnung an Cicero, De republica 2, 35 – als „gentes minores“ (jüngere Geschlechter). Weber übernimmt hier die Einschätzung von Eduard Meyer, Geschichte des Alterthums II1 (wie oben, S. 250, Anm. 6), S. 521 f., nach welchem die „Rathsfähigkeit des Geschlechts“ die Wurzel des römischen Adels war. Anders als Mommsen, Römisches Staatsrecht III,13 (wie oben, S. 143, Anm. 37), S. 30 f., der die „gentes minores“ dem Patriziat zurechnete, waren sie nach Meyer angesehene Männer „bürgerlichen Standes“, die nur durch eine „außerordentliche“ königliche Berufung in den Senat gelangt seien.
Neben jener Art von „Versachlichung“ des Charisma, welche seine Behandlung als Erbgut darstellt, stehen andre, historisch wichtige Arten. Zunächst kann statt der Übertragung durch das Blut die künstliche, magische, Übertragbarkeit treten: die apostolische „Sukzession“ durch die Manipulationen
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der Bischofsweihe, die durch die Priesterordination erworbene, unvertilgbare charismatische Qualifikation,[525] Veraltet für: kunstgerechter Gebrauch der Hände; hier im Sinn von: rituellen Handlungen
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die Bedeutung der Krönung und Salbung der Könige und [526]zahllose andre ähnliche Vorgänge bei Natur- und Kulturvölkern führen darauf zurück. Weniger das an sich meist zur Form gewordene Symbol als solches ist praktisch wichtig, als der in vielen Fällen damit verbundene Gedanke: die Verknüpfung des Charisma mit der Innehabung eines Amtes – in welches die Handauflegung, Salbung usw. einführt – als solchen. Denn hier liegt der Übergang zu jener eigentümlichen institutionellen Wendung des Charisma: seine Anhaftung an ein soziales Gebilde als solches, als Folge der an die Stelle des charismatischen persönlichen Offenbarungs- und Heldenglaubens tretenden Herrschaft der Dauergebilde und Traditionen. Die Lehre von der „apostolischen Succession“, die den Vorrang der Bischöfe vor den Presbytern und der Gemeinde begründete, kam zu Beginn des zweiten Jahrhunderts auf (vgl. Sohm, Kirchenrecht, S. 175). Adolf Harnack führte die Ausformulierung der Lehre auf Cyprian zurück (vgl. Harnack, Adolf, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 1: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas, 4. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul [526]Siebeck) 1909, S. 460, Anm. 2; hinfort: Harnack, Dogmengeschichte I). Sichtbares Zeichen für die Übertragung des Bischofsamtes war zunächst die „Handauflegung“, später auch die Salbung sowie die Übergabe der Amtsinsignien. Fraglich ist, ob Max Weber hier die verschiedenen rituellen Handlungen (im älteren Sprachgebrauch „Manipulationen“) oder speziell die Handlauflegung (lat.: „manus impositio“) meint. Sohm sah in der Umwandlung des freien Lehramts zum „Alleinrecht des Bischofs auf autoritäre Wortverwaltung“ eine entscheidende Abkehr von der ursprünglichen charismatischen Ordnung der Kirche: „Mit seinem Amt empfängt der Bischof das charisma veritatis, die Gabe wahrer apostolischer Lehrverkündigung. Einst ruhte das Amt […] auf dem Charisma. Jetzt ruht umgekehrt das Charisma auf dem Amt." (Sohm, Kirchenrecht, S. 215 f.).
[A 775]Die Stellung des römischen Bischofs (ursprünglich: dieses Bischofs in Gemeinschaft mit der römischen Ekklesia) in der alten Kirche war wesentlich charismatischen Charakters: sehr früh gewinnt diese Kirche eine spezifische Autorität,
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welche sich der intellektuellen Überlegenheit des hellenistischen Orients gegenüber Seit dem ersten Jahrhundert nahm der römische Bischof und seine „Ekklesia“, die von Sohm, Kirchenrecht, S. 16–22, als „Versammlung der Auserwählten“ bzw. „des Gottesvolkes“ (ebd., S. 18) und somit als geistlicher und nicht als rechtlich-korporativer Begriff verstanden wurde, eine geistliche Vorrangstellung in der christlichen Kirche ein. Die Sonderstellung Roms basierte auf der Gemeindegründung durch den Apostel Petrus und auf der Lehr- und Fürsorgegewalt, die ihr deshalb schon sehr früh zugeschrieben wurde. Erst seit dem fünften Jahrhundert setzte sich auch eine rechtliche Vorrangstellung Roms durch. Vgl. auch Sohm, Kirchenrecht, S. 377–420.
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– der fast alle großen Kirchenväter hervorbrachte, die Dogmen prägte und alle ökumenischen Konzilien[526]A: gegenüber,
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auf seinem Gebiete sah In der Frühgeschichte der christlichen Kirche fanden insgesamt acht ökumenische, d. h. gesamtkirchliche, Konzilien statt, wobei das letzte (869/70) von der byzantinischen Kirche nicht als ökumenisch anerkannt wurde. Für die christliche Dogmenbildung waren diese Konzilien entscheidend; sie kamen ausgehend von Nicäa (325), viermal in Konstantinopel (381, 553, 680/81, 869/70), in Ephesus (431) und Chalcedon (451) sowie nochmals in Nicäa (787) zusammen.
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– immer wie[527]der behauptete, solange die Einheit der Kirche bestand,A: sah,
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und auf dem festen Glauben ruhte, Gott werde gerade die Kirche der Welthauptstadt trotz ihrer so viel geringeren intellektuellen Mittel, nicht irren lassen. Etwas anderes als ein Charisma war dies nicht: einen Primat im modernen Sinne eines maßgebenden „Lehramts“ oder einer universellen Jurisdiktionsgewalt im Sinn einer Appellations- oder gar einer universell mit den Lokalgewalten konkurrierenden Bischofskompetenz stellte es in keiner Weise dar, denn diese Begriffe waren damals noch gar nicht entwickelt. Und ferner: wie jedes Charisma, galt auch dies zunächst als eine labile Gnadengabe: einen römischen Bischof wenigstens hat das Anathema eines Konzils getroffen.[527] Die Trennung der römischen von der byzantinischen Kirche begann mit dem Bilderstreit von 680/81 und vollzog sich endgültig mit dem Schisma von 1054. Mit seiner Bewertung lehnt sich Weber an Harnack an, der den „Hellenismus“ auf dem „Gebiet der theologischen Schriftstellerei“ als führend ansah. Vgl. Harnack, Mission II (wie oben, S. 463, Anm. 8), S. 283, Anm. 1.
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Aber im ganzen stand es als eine Verheißung an die Kirche fest. Noch Innocenz III. auf der Höhe seiner Macht hat nicht mehr als den ganz allgemeinen und inhaltlich unbestimmten Glauben an jene Verheißung in Anspruch genommen, Gemeint ist hier wohl Papst Honorius I. (625–638), der wegen seiner Rolle im sog. Monotheletistenstreit (Lehre, daß in Christus ein Wille herrsche) vom sechsten ökumenischen Konzil in Konstantinopel (680/81) – lange nach seinem Tod – mit dem Kirchenbann belegt und zum Häretiker erklärt wurde. Vgl. Hefele, Carl Joseph von, Conciliengeschichte, Band 3, 2. Aufl. – Freiburg i. Br.: Herder 1877, S. 290–313.
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und erst die juristisch bürokratisierte und intellektualisierte Kirche der Neuzeit hat daraus eine Amtskompetenz gemacht, mit der für jede Bürokratie charakteristischen Scheidung von Amt („ex cathedra“) Papst Innocenz III. behauptete, die „plenitudo potestatis“ liege beim Papst, da dieser Stellvertreter Gottes auf Erden und Universalbischof sei.
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und Privatmann. Die Äußerungen des Papstes in Fragen des Glaubens oder der Sitten, welche er „ex cathedra“, d. h. „vom Lehrstuhl aus“, in seiner Eigenschaft als Hirte und Lehrer der Christenheit und in „Vollgewalt seiner apostolischen Autorität“ vornimmt, gelten seit dem Beschluß des Ersten Vatikanischen Konzils von 1869/70 als „unfehlbar“. Damit wird jedoch nicht behauptet, daß der Papst als Privatperson oder in anderen Dingen unfehlbar sei.
Das Amtscharisma – der Glaube an die spezifische Begnadung einer sozialen Institution als solcher – ist keineswegs eine nur den Kirchen und noch weniger eine nur primitiven Verhältnissen eigene Erscheinung. Es äußert sich auch unter modernen Bedingungen in politisch wichtiger Art in den innerlichen Beziehungen der Gewaltunterworfenen zur staatlichen Gewalt. Denn diese kann sehr verschieden [528]sein, je nachdem sie dem Amtscharisma freundlich oder feindlich gegenübersteht. Die spezifische Respektlosigkeit des Puritanismus gegenüber allem Kreatürlichen,
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seine Ablehnung aller Kreaturvergötterung wirkte dahin, im Bereiche seiner Herrschaft alle charismatischen Respektverhältnisse aus der inneren Stellungnahme gegenüber den Gewaltigen der Erde auszumerzen: alle Amtsführung ist ein business wie ein anderes, der Herrscher und seine Beamten sind Sünder wie andere (von Kuyper in seinen Konsequenzen stark betont)[,][528]A: kreatürlichen,
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nicht klüger wie andere. Durch Gottes unerforschliche Ratschlüsse sind zufällig gerade sie an diese Stelle geraten und dadurch mit der Macht, Gesetze, Verordnungen, Urteile, Verfügungen zu fabrizieren[,] ausgestattet. Aus dem kirchlichen Amt muß freilich derjenige, welcher die Zeichen der Verwerfung an sich trägt, entfernt werden. Aber im Mechanismus des Staats ist ein solcher Grundsatz undurchführbar und auch entbehrlich. Solange die weltlichen Gewalthaber direkt nichts gegen das Gewissen und Gottes Ehre tun, nimmt man ihre Gewalt hin, denn eine Änderung würde nur andere, ebenso sündige und wahrscheinlich ebenso törichte, Menschen an ihre Stelle setzen. Aber irgendeine innerlich bindende Autorität haben sie, die ja nur Bestandteile eines menschlich geschaffenen, menschlichen Zwecken dienenden Mechanismus sind, nicht. Das Amt besteht um sachlicher Notwendigkeit willen, es ist aber nichts, was unter und über seinem jeweiligen Inhaber schwebt und auf diesen irgendeine Weihe zurückstrahlen könnte, wie sie etwa nach unserem normalen deutschen Empfinden das „königliche Amtsgericht“ besitzt. Diese naturalistisch irrationale innere Haltung und innere Stellungnahme zum Staat, welche, je nachdem, sehr konservativ oder auch sehr revolutionär wirken konnte und gewirkt hat, ist eine Grundbedingung zahlreicher wichtiger Eigentümlichkeiten innerhalb der vom Puritanismus beeinflußten Welt. Die grundsätzlich ganz andere Stellung etwa des normalen Deutschen zum Amt, zu der [529]als etwas Überpersönliches gedachten Behörde und deren Nimbus ist allerdings zum Teil durch die ganz konkrete Eigenart der lutherischen Religiosität bedingt, entspricht aber, in der Ausstattung der Gewalten mit dem Amtscharisma der „gottgewollten Obrigkeit“,[528] Der niederländische Theologe Abraham Kuyper betonte in seinen Vorlesungen (Kuyper, Vorlesungen über den Calvinismus, S. 74), daß die von ihm als sündhaft betrachtete Obrigkeit die absolute Souveränität Gottes anzuerkennen habe und deshalb vom Volk frei gewählt werden sollte. Weder dürfe sie das „System der freien Kirchen im freien Staat“ noch die „Souveränität des Gewissens als das Palladium aller persönlichen Freiheit“ antasten (ebd., S. 98 f.).
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einem sehr allgemeinen Typus, und die rein empfindungsmäßige Staatsmetaphysik, welche auf diesem Boden wächst, [A 776]hat politisch weittragende Konsequenzen. Das Gegenstück gegen die puritanische Verwerfung des Amtscharisma ist die katholische Theorie vom Charakter indelebilis des Priesters mit ihrer strengen Scheidung von Amtscharisma und persönlicher Würdigkeit.[529] Anspielung auf Paulus, Römerbrief 13, und das sich auf ihn berufende lutherische Staats- und Landeskirchentum. In der theologischen Literatur hatte Ernst Troeltsch den konservativen Zug in der Sozialphilosophie des Luthertums hervorgehoben. Es habe von vornherein den mittelalterlichen „Gedanke[n] einer staatlich-kirchlichen Einheitskultur“ fortgesetzt. Luther habe „Zuflucht zur Staatsgewalt“ genommen und „ein Zwangskirchentum“ errichtet. Vgl. Troeltsch, Ernst, Die Sozialphilosophie des Christentums, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1911, S. 31–67, Zitate: S. 47.
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Sie ist die radikalste Form der Versachlichung und Umwandlung der rein persönlichen, an der Bewährung der Person haftenden charismatischen Berufung in eine an jedem, der in die Amtshierarchie durch eine magische Handlung als Glied aufgenommen ist, unverlierbar klebende, den Amtsmechanismus ohne Ansehen des Werts der Person seiner Träger heiligende, charismatische Befähigung. Durch den „charakter indelebilis“ (vgl. den Glossar-Eintrag, unten, S. 784) hat der Priester nach römisch-katholischer Lehre Anteil an der Weihe- und Jurisdiktionsgewalt der Kirche. Diese Fähigkeit bleibt dem Ordinierten trotz persönlicher Verfehlungen – selbst im Fall von Todsünden, so ein Edikt von Papst Calixtus I. (217–222) – erhalten. Er kann nicht wieder Laie werden, sondern höchstens vom Amt suspendiert werden.
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Diese Versachlichung des Charisma war das Mittel, einen hierokratischen Mechanismus in eine Welt, welche magische Befähigungen auf Schritt und Tritt vor sich sah, hineinzupflanzen. Nur wenn der Priester persönlich absolut verworfen sein konnte, ohne daß deshalb seine charismatische Qualifikation fraglich wurde, war die Bürokratisierung der Kirche möglich und ihr Anstaltscharakter in seinem charismatischen Werte allen persönlichen Zufälligkeiten entrückt. Da gerade dem noch nicht verbürgerlichten Menschen die moralisierende Betrachtung der irdischen, ebenso wie die der überirdischen Welt noch fern liegt, die [530]Götter nicht gut, sondern nur stark sind, magische Befähigung aber bei allen möglichen tierischen, menschlichen und übermenschlichen Wesen anzutreffen ist, so knüpft diese Art von Scheidung der Person von der Sache durchaus an geläufige Vorstellungen an, welche sie nur in wohl überlegter Weise in den Dienst einer großen Strukturidee: eben der Bürokratisierung stellte. – [529] Textverderbnis in A: einer an jeden, […], unverlierbar klebenden, den Amtsmechanismus ohne Ansehen des Werts der Person seiner Träger heiligenden, charismatischen Befähigung.
Ist einmal die charismatische Befähigung zu einer sachlichen Qualität geworden, die durch irgendwelche[,] zunächst rein magische, Mittel übertragen werden kann, so ist damit der Weg zu ihrer Verwandlung aus einer Gnadengabe, deren Besitz erprobt und bewährt, nicht aber mitgeteilt oder angeeignet werden kann, in etwas dem Prinzip nach Erwerbbares beschritten. Damit wird die charismatische Befähigung möglicher Gegenstand der Erziehung. Freilich wenigstens ursprünglich nicht in der Form rationaler oder empirischer Lehre. Heldentum und magische Fähigkeiten gelten zunächst nicht als lehrbar. Sondern sie können nur, wo sie latent vorhanden sind, durch Wiedergeburt der ganzen Persönlichkeit geweckt werden. Wiedergeburt und dadurch Entfaltung der charismatischen Qualität, Erprobung, Bewährung und Auslese des Qualifizierten ist daher der genuine Sinn charismatischer Erziehung. Isolierung von der gewohnten Umgebung und dem Einfluß aller natürlichen Bande der Familie (bei primitiven Völkern direkt Übersiedelung der Epheben in den Wald), immer aber Eintritt in eine besondere Erziehungsgemeinschaft, Umgestaltung der gesamten Lebensführung, Askese, körperliche und seelische Exercitia in den verschiedensten Formen zur Weckung der Fähigkeit zur Ekstasis und zur Wiedergeburt, fortwährende Erprobung der jeweils erreichten Stufe charismatischer Vervollkommnung durch psychische Erschütterungen und physische Torturen und Verstümmelungen (die Beschneidung ist vielleicht in erster Linie als Bestandteil dieser asketischen Mittel entstanden), endlich stufenweise feierliche Rezeption der Erprobten in den Kreis der bewährten Träger des Charisma. Der Gegensatz gegen die Fachbildung ist natürlich innerhalb gewisser Grenzen flüssig. Jede charismatische Erziehung schließt irgendwelche fachbildungsmäßige Bestandteile in sich, je nachdem in den Novizen der Kriegsheld, Medizinmann, Regenmacher, Exorzist, Priester, Rechtskundige entwickelt werden soll, und dieser, sehr oft im Interesse des Prestiges
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und [531]der Monopolisierung als Geheimlehre behandelte, empirisch fachliche Bestandteil, die Lehre, nimmt mit steigender Differenzierung der Berufe und Erweiterung des Fachwissens stetig sowohl quantitativ wie an rationaler Qualität zu, bis als caput mortuum der alten asketischen Mittel zur Weckung und Erprobung charismatischer Fähigkeit die bekannten pennalistischen Erscheinungen des Kasernen- und Studentenlebens innerhalb einer wesentlich fachmäßigen Abrichtung übrig bleiben. Die genuin charismatische Erziehung ist aber der radikale Gegenpol der von der Bürokratie postulierten fachspezialistischen Lehre. Zwischen der auf charismatische Wiedergeburt gerichteten Erziehung und dem auf bürokratisches Fachwissen gerichteten ratio[A 777]nalen Unterricht mitten inne liegen alle jene auf „Kultivierung“ in dem früher besprochenen Sinn des Wortes:[530]A: Prestige
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Umgestaltung der äußeren und inneren Lebensführung, gerichteten Arten der Bildung, welche die ursprünglichen irrationalen Mittel der charismatischen Erziehung nur in Resten bewahren, und deren wichtigster Fall von jeher die Heranbildung zum Krieger oder Priester war. Auch die Erziehung zu Kriegern oder Priestern ist ursprünglich vor allem: Auslese der charismatisch Qualifizierten. Wer die Heldenproben der Kriegererziehung nicht besteht, bleibt ebenso „Weib“ wie der magisch nicht Erweckbare „Laie“ bleibt. Die Erhaltung und Steigerung der Qualifikationserfordernisse wird nach uns bekanntem[531] Siehe den Text „Bürokratismus“, oben, S. 232 f.
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Schema[531]A: unbekanntem
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eifrig gefördert durch die Interessen des Gefolges, welches den Herrn zwingt, nur die durch die gleichen Proben Hindurchgegangenen Siehe den Text „Feudalismus“, oben, S. 402–404. Bei der im Text der Erstausgabe überlieferten Formulierung „unbekanntem Schema“ dürfte es sich um einen Hörfehler bei Diktat handeln. Vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 479 f.
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an dem Prestige und den materiellen Vorteilen der Herrschaft teilnehmen zu lassen. A: hindurchgegangenen
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Bei der in der Erstausgabe überlieferten Kleinschreibung des Substantivs könnte es sich ebenfalls – wie oben, textkritische Anm. u – um einen Hörfehler bei Diktat handeln.
Die ursprünglich charismatische Erziehung kann im Verlauf dieser umbildenden Entwicklung zu einer formell staatlichen oder kirchlichen Institution werden oder auch der formell freien Initiative der zu einer Zunft zusammengeschlossenen Interessenten überlassen bleiben. Welchen Weg die Entwicklung einschlägt, hängt von den [532]verschiedensten Umständen und namentlich von den Machtverhältnissen der einzelnen konkurrierenden charismatischen Gewalten ab. So insbesondere auch die Frage: inwieweit innerhalb einer Gemeinschaft die militärisch ritterliche oder die priesterliche Erziehung universelle Bedeutung gewinnen. Gerade der Spiritualismus der geistlichen Erziehung macht diese leicht zur rationalen Erziehung im Gegensatz zur
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ritterlichen. Die Erziehung zum Priester, Regenmacher, Medizinmann, Schamanen, Derwisch, Mönch, heiligen Sänger und Tänzer, Schreiber und Rechtskundigen und ebenso zum Ritter und Krieger findet[532]A: zum
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sich in den mannigfachsten Formen von letztlich doch immer wieder ähnlichem Wesen. Verschieden ist nur die Tragweite der so gezüchteten Bildungsgemeinschaften im Verhältnis untereinander. Diese hängt nicht nur von den weiterhin zu erörternden gegenseitigen Machtverhältnissen von imperium und sacerdotiumA: finden
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ab, sondern zunächst davon, inwieweit die Militärleistungen den Charakter einer sozialen Ehre, als Obliegenheit einer dadurch spezifisch qualifizierten Schicht[,] an sich tragen.[532] Siehe den Text „Staat und Hierokratie“, unten, S. 579 ff. Weber verwendet hier die im Mittelalter gebräuchliche Formulierung für den Gegensatz von Kaisertum und Priestertum bzw. von weltlicher und geistlicher Gewalt.
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Nur dann, dann aber überall entwickelt der Militarismus eine eigene Erziehung, während umgekehrt die Entwicklung einer spezifisch klerikalen Erziehung Funktion der Bürokratisierung der Herrschaft, zunächst der sakralen, zu sein pflegt. A: trägt.
Die hellenische Ephebie als Bestandteil der für die hellenische Kultur grundlegenden gymnastisch-musischen Durchbildung der Persönlichkeit ist nur ein Spezialfall einer über die ganze Erde verbreiteten Erscheinung militärischer Erziehung.
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Vor allem die Vorbereitungen zur Jünglingsweihe, d. h. zur Heldenwiedergeburt, die Aufnahme in den Männerbund und in die gemeinsame Kriegerbehausung (eine Art von primitiver Kaserne, denn dies ist ursprünglich das von Schurtz so liebevoll überall aufgespürte Männerhaus) Im antiken Griechenland bezeichnete „ephebeia“ die Übergangszeit zwischen Kindheit und Mannesalter und zugleich die Institution, in der Jugendliche (der Altersstufe von etwa 12 bis 20 Jahren) in die Rechte und Pflichten eines Bürgers eingeführt wurden. Die Ausbildung der Epheben enthielt militärische, kultische und politische Elemente.
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ge[533]hören hierher. Sie sind Laienerziehung: die kriegerischen Geschlechter beherrschen die Erziehung. Die Institution zerfällt, wo immer der Angehörige der politischen Gemeinschaft nicht mehr in erster Linie Krieger, der Kriegszustand nicht mehr die chronische Beziehung zwischen den politischen Nachbargebilden ist. Auf der anderen Seite steht als Beispiel weitgehender Klerikalisierung der Erziehung die Beherrschung mindestens der Beamten- und Schreiberausbildung durch die Priesterschaft in dem typisch bürokratischen ägyptischen Staatswesen. Weber bezieht sich hier auf Schurtz, Altersklassen, S. 214 ff., der das sog. „Männerhaus“ und sich daraus entwickelnde Geheimbundorganisationen insbesondere im ma[533]layo-polynesischen Ursprungsgebiet und deren weltweite Verbreitung erforscht hatte. Nach Schurtz kann das typische Männer- oder Junggesellenhaus „als ein Gebäude bezeichnet werden, in dem sich die mannbar gewordenen, aber noch nicht verheirateten Jünglinge aufhalten“ (ebd., S. 202).
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Auch bei einem erheblichen Teil der übrigen Völker des Orientes war und blieb die Priesterschaft, weil sie allein ein rationales Erziehungssystem entwickelte und dem Staate seinen Bedarf an Schreibkundigen und im rationalen Denken geübten Bürobeamten lieferte, Herrin der Beamtenerziehung und das hieß: der Erziehung überhaupt. Auch im Okzident während des Mittelalters war die Erziehung durch die Kirche und die Klöster, als durch die Stätten jeder Art rationaler Erziehung[,] von sehr großer Bedeutung. Aber während ein Gegengewicht gegen die Klerikalisierung der Erziehung in den rein bürokratischen ägyptischen [A 778]Staatswesen nicht vorhanden war, während auch die übrigen patrimonialen Staatsbildungen des Orientes eine spezifische Rittererziehung nicht entwickelten, weil die ständische Unterlage dazu fehlte, und während vollends die gänzlich entpolitisierten[,] auf den Zusammenhalt durch Synagoge und Rabbinentum angewiesenen Israeliten Gemeint ist die Zeit des Neuen Reichs (1550–1070/69 v. Chr.), in der die Verwaltung von leibeigenen Schreibern geführt wurde. Die Priesterschaft dieser Epoche, welche sich – wie Weber, Agrarverhältnisse3, S. 86, näher ausführt – „zu einem eigenen, die Erziehung des Nachwuchses der Beamtenschaft leitenden, mit ihr oft verwandtschaftlich und durch Funktionskumulation eng verbundenen Stand von immensem Einfluß entwickelt, der jeden Versuch der Pharaonen, sich von seiner Macht zu emanzipieren, zu vereiteln weiß, weil das Gegengewicht selbständiger weltlicher Feudalgeschlechter jetzt so gut wie ganz fehlt“.
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einen Haupttypus [534]streng klerikaler Erziehung entwickelten, bestand dagegen im abendländischen Mittelalter, dem feudalen und ständischen Charakter der Herrenschicht zufolge, ein Neben-, Gegen- und Miteinander klerikal rationaler und ritterlicher Erziehung, welche dem abendländischen Menschentum des Mittelalters und auch den Universitäten des Abendlandes ihren spezifischen Charakter gab. Max Weber weist in dem nachgelassenen Text „Die Pharisäer“ den Aufstieg der Synagoge und den Machtaufstieg der Rabbinen der Zeit des Spätjudentums (nach der Makkabäerzeit) zu. Die Synagoge habe „dem Diaspora-Juden den priesterlichen Kult“ ersetzt und das Rabbinentum – unter Zurückdrängung der Bedeutung des Grundbesitzes – die spezifische Art der Schulung am Gesetz gefördert. Vgl. Weber, Max, Nachtrag. Die Pharisäer, in: MWG I/21, S. 758–846, Zitat: S. 784.
In der hellenischen Polis und in Rom fehlte nicht nur der staatliche, sondern ebenso auch der priesterliche bürokratische Apparat, der ein klerikales Erziehungssystem hätte schaffen können. Daß das Literaturprodukt einer mit den Göttern höchst respektlos umgehenden weltlichen Adelsgesellschaft: daß Homer untrennbar an der Spitze der literarischen Erziehungsmittel blieb – daher der tiefe Haß eines Mannes wie Plato gegen ihn
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–[,] war nur zum Teil ein schicksalsvoller Zufall, welcher jeder theologischen Rationalisierung der religiösen Mächte im Wege stand. Das Entscheidende blieb das Fehlen eines spezifisch priesterlichen Erziehungssystems überhaupt. [534] Platon, Politeia 599c–600e, legt dar, weshalb Homer als Erzieher ungeeignet sei. Vgl. dazu auch die Interpretation von Eduard Meyer, Geschichte des Alterthums, Band 5, 1. Aufl. – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta 1912, S. 321, wo dieser ausführt, daß Platon in Homer und dessen Behandlung von Mythen, Göttern und Heroen den „Urquell des vergiftenden Irrwahns, der den Schein für die Wahrheit nimmt“, gesehen habe.
In China endlich ist die Eigenart des konfuzianischen Rationalismus, sein Konventionalismus und seine Rezeption als Grundlage der Erziehung durch die bürokratische Rationalisierung des weltlichen Patrimonialbeamtentums und das Fehlen feudaler Mächte bedingt. –
Jede Art von Erziehung, sowohl zu einem magischen Charisma wie zum Heldentum, kann Sache eines engen Kreises von Zunftgenossen werden, welche dann priesterliche Geheimbünde auf der einen Seite, vornehme Adelsklubs auf der anderen Seite aus sich herausentwickeln können. Von einer geordneten Beherrschung bis zur gelegentlichen Ausplünderung durch die namentlich in West-Afrika oft als Geheimbund konstituierte politische oder magische Zunft gibt es da alle denkbaren Stadien.
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Und allen jenen zu Klubs und Zünften entwickelten Gemeinschaften, seien sie nun ursprünglich [535]aus kriegerischen Gefolgschaften oder aus dem Verbande aller erprobt wehrhaften Männer entwickelt, ist gemeinsam die Tendenz[,] an Stelle der charismatischen zunehmend die rein ökonomische Qualifikation treten zu lassen. Um sich der, geraume Zeit in Anspruch nehmenden und ökonomisch nicht unmittelbar nutzbaren, charismatischen Erziehung unterziehen zu können, war für den jungen Mann die Entbehrlichkeit seiner Arbeitskraft in der Hauswirtschaft Voraussetzung, welche mit zunehmender Intensität der ökonomischen Arbeit immer weniger gegeben war. Diese zunehmende Monopolisierung der charismatischen Erziehung durch die Wohlhabenden wurde künstlich weiter gesteigert. Mit dem Verfall der ursprünglichen magischen oder militärischen Funktionen trat die rein ökonomische Seite der Sache immer mehr in den Vordergrund. In die verschiedenen Stufen der politischen „Klubs“ in Indonesien Weber stützt sich hier auf Schurtz, Altersklassen, S. 408, der Westafrika als „Musterland der Geheimbünde“ bezeichnete. Der dort erwähnte „Purrahbund“ beruhte auf dem Zusammenschluß verschiedener Stämme im Süden der britischen Kolonie Sierra Leone bis zum Kap Monte. Das Tribunal des Bundes war verantwortlich für Plünderungszüge gegen für schuldig befundene Stämme oder zu reich gewordene Familien.
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kauft man sich im Endstadium der Entwicklung einfach ein, unter primitiven Verhältnissen durch Ausrichtung eines ausgiebigen Gastmahls. Die Umbildung der charismatischen in eine rein plutokratische Herrenschicht ist gerade bei sonst primitiven Völkern etwas Typisches, wo immer die praktische Bedeutung des militärischen oder magischen Charisma zurücktritt. Alsdann nobilitiert zwar nicht notwendig der Besitz als solcher, wohl aber die Lebensführung, die nur er ermöglicht. Ritterliches Leben heißt im Mittelalter vor allem auch: ein offenes Haus für Gäste haben. Bei zahlreichen Völkern erwirbt man die Befugnis, sich Häuptling zu nennen, einfach durch Ausrichtung von Gastmählern und erhält sie sich auf dem gleichen Wege, eine Art des „noblesse oblige“, die zu allen Zeiten leicht zur Verarmung dieser sich selbst besteuernden Notabeln führt. [535] „Klubs“ sind nach der Definition von Schurtz, Altersklassen, S. 318, „geschlossene Gesellschaften“, die „aus dem System der Altersklassen und Männerhäuser erwachsen“. Typisch waren sie für Melanesien, nicht aber für Indonesien. Die von Weber genannten Aufnahmebedingungen macht Schurtz für einen Klub auf den Banks-Inseln geltend (ebd., S. 336).