[536]Editorischer Bericht
Zur Entstehung
Im nachfolgend edierten Text beschreibt Max Weber einen gegenläufigen Prozeß: das Zurückweichen des Charisma zugunsten von anderen – traditionellen, insbesondere aber rationalen – Strukturformen der Herrschaft und die unter diesen veränderten Bedingungen mögliche „Erhaltung charismatischer Elemente“.
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Obwohl das Charisma durch diese ihm widerstrebenden Entwicklungstendenzen in seiner Bedeutung zurückgedrängt wird, wird es jedoch nicht bedeutungslos – im Gegenteil: Im allgemeinen Rationalisierungsprozeß behauptet es sich als Ausdruck „individuellen Handelns“ und als genuin „schöpferische Macht“ der Geschichte.[536] Vgl. unten, S. 559.
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Im ersten Teil des Textes beschreibt Max Weber den Kampf zwischen individuellem Charisma und rationaler Disziplin insbesondere am Beispiel der Kriegführung. Dort können emotionale, dem Charisma ähnliche Elemente effizient in das strategische Kalkül miteinbezogen werden. Der zweite Teil des Textes befaßt sich mit der legitimitätsstiftenden Funktion des Charisma. Diese trage u. a. zur Stabilisierung konstitutioneller Systeme bei. Vgl. unten, S. 542 und 558.
Im Gegensatz zum zweiten Teil des Textes, der keine direkten Datierungshinweise oder Literaturreferenzen enthält,
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ist der erste Teil des Textes aussagekräftiger. Hier knüpft Max Weber an die Terminologie des Kategorienaufsatzes und die dort behandelten massenpsychologischen Aspekte des Handelns an. Der zweite Teil des Textes beginnt unten, S. 558, Zeile 21. Nur am Textende findet sich dort ein indirekter Datierungshinweis (unten, S. 562 mit Anm. 57). Die Anspielung auf den am 6. Mai 1910 verstorbenen König Eduard VIl. markiert lediglich den frühestmöglichen Zeitpunkt der Niederschrift dieser Textpassage, gibt aber ansonsten keine weiteren Aufschlüsse.
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Er stellt die Wirksamkeit des Charisma in ei[537]nen Zusammenhang mit der Rationalisierungsthematik und wirft vor diesem Hintergrund die Frage auf, welchen Spielraum das Charisma für das individuelle Handeln gegen das befohlene Massenhandeln eröffnen bzw. bewahren kann. Vgl. die Erwähnung von „Gemeinschaftshandeln“ (unten, S. 542) sowie die „rationale“ und die „autonome […] Vergesellschaftung“ (unten, S. 542 und 552); massenpychologische Aspekte (vgl. Weber, Kategorien, S. 277) werden unten, S. 542–545 angesprochen und durch die Begriffe „Einfühlung“ und „Eingebung“ auf die entsprechende Arbeit von Willy Hellpach verwiesen (vgl. dazu unten, S. 544 f., Anm. 7).
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Dieser Aspekt ist im Vergleich zu den vorangehenden Texten „Charismatismus“ und „Umbildung des Charisma“ neu.[537] Vgl. unten, S. 542–545.
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Die direkte Verknüpfung von Charisma und Individualismus findet sich im Rahmen der älteren Fassung der „Herrschaftssoziologie“ sonst nur noch im überlieferten Manuskripteinschub zum Text „Staat und Hierokratie“, dessen Niederschrift wohl nach 1912 zu datieren ist. Vgl. die Editorischen Berichte zum Text „Charismatismus“ und „Umbildung des Charisma“, oben, S. 454 und 473.
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– Eine Bemerkung zu Beginn des Textes „Erhaltung des Charisma“ über die „hier nicht zu erörternde[n]“ Kulturinhalte Vgl. den Manuskripteinschub zum Text „Staat und Hierokratie“, unten. S. 593 („individuell charismatischer Wunderthäter“) und S. 607 („individuelle charismatische Heilsverkündigung und Heilsarbeit“), sowie den Editorischen Bericht zum Text „Staat und Hierokratie“, unten, S. 565–567.
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weist in die zweite Jahreshälfte 1913. Max Weber schrieb seinem Verleger Paul Siebeck am 30. Dezember 1913, daß er hoffe, später einmal „eine Soziologie der Cultur-Inhalte (Kunst, Litteratur, Weltanschauung) […] außerhalb dieses Werkes oder als selbständigen Ergänzungsband“ liefern zu können. Vgl. unten, S. 543.
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Diese Mitteilung über die spätestens im Dezember 1913 getroffene Entscheidung zur Konzeption des Handbuch-Beitrags deckt sich folglich mit der im Text bekundeten Absicht, die Kulturinhalte an anderer Stelle zu behandeln. Auch die Ausführungen am Ende des ersten Textteils weisen in das Jahr 1913. Dort erwähnt Max Weber die seit Mitte Februar 1913 in Frankreich öffentlich geführte Debatte um die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht. Vgl. Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, MWG II/8, S. 450.
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Obwohl die Verlängerung der Dienstzeit insbesondere zwischen Militärs und Republikanern heftig umstritten war, führte sie dennoch zur Verabschiedung der „Loi de Trois Ans“ am 7. August 1913. Die entsprechende Textpassage muß somit nach dem Sommer 1913 geschrieben bzw. bearbeitet worden sein. Zugleich enthalten dieser und der darauffolgende Absatz Vgl. unten, S. 556 mit Anm. 42.
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Ergebnisse aus Max Webers Aufsatzserie „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“, die zwar schon in den Jahren 1908/09 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ veröffentlicht worden war, Vgl. unten, S. 556–558.
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aber hier um [538]neuere Forschungsergebnisse ergänzt wurde. Es handelt sich um Frederick Taylors Ausdruck „scientific management“, den dieser in seinem fast gleichnamigen Buch ausführlich behandelt hatte. Vgl. Weber, Max, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit, in: MWG I/11, S. 150–380, zu den Veröffentlichungsdaten vgl. insbes. den Editorischen Bericht, ebd., S. 161.
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Die englische Buchausgabe erschien 1911 – Max Weber erwähnt sie in einem Brief vom September 1912[538] Vgl. unten, S. 558 mit Anm. 48.
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–, die deutsche Übersetzung jedoch erst zu Beginn des Jahres 1913. Vgl. den Brief Max Webers an Hans W. Gruhle vom 26. Sept. 1912, MWG II/7, S. 678 mit Anm. 5.
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Die hier vorliegenden Ausführungen Max Webers weisen jedoch eine Reihe evidenter Bezüge zum Vorwort der deutschen Ausgabe auf, weshalb man vermuten darf, daß er diese herangezogen hat. Das Vorwort des deutschen Übersetzers Rudolf Roesler ist unter „Dezember 1912“ abgezeichnet, so daß der Band vermutlich schon im Januar 1913 ausgeliefert wurde.
Beide Teile des Textes „Erhaltung des Charisma“ greifen die These von der „Erstarrung der Herrschaft zu Dauergebilden“ auf und knüpfen somit direkt an die Ausführungen des Textes „Umbildung des Charisma“ an.
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Dies ist ein gewichtiger inhaltlicher Grund für die hier gewählte und von der Erstausgabe von „Wirtschaft und Gesellschaft“ abweichende Anordnung des Textes „Erhaltung des Charisma“ im Anschluß an die beiden Texte „Charismatismus“ und „Umbildung des Charisma“. Vgl. unten, S. 542 und 558 (Zitat), sowie die entsprechenden Ausführungen im Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 489–491, 513 und 517.
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Gestützt wird die veränderte Positionierung des Textes durch die textinterne Verweisstruktur. Ein Vorausverweis im Text „Feudalismus“ zur „,konstitutionelle[n]‘ Notwendigkeit“ eines Großwesirs läßt sich nur im hier edierten Text auflösen. Vgl. dazu die Ausführungen im zweiten Teil des Editorischen Berichts, unten, S. 540.
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Insbesondere der zweite Textteil ist durch Verweise eng mit den Texten „Charismatismus“, „Umbildung des Charisma“ und „Staat und Hierokratie“ verbunden, so durch die Vorausverweise aus den beiden Texten „Charismatismus“ und „Umbildung des Charisma“ zur „,Versachlichung‘ des Charisma“ und zur „Vergöttlichung“ des Herrschers. Vgl. den Text „Feudalismus“, oben, S. 415 mit Anm. 88.
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Umgekehrt lassen sich zwei im Text „Erhaltung des Charisma“ enthaltene Rückverweise auf den Text „Umbildung des Charisma“ beziehen. Vgl. den Text „Charismatismus“, oben, S. 469 mit Anm. 25, und den Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 521 mit Anm. 1.
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Außerdem knüpfen die inhaltlichen Ausführungen zur legitimierenden Funktion des Charisma Vgl. unten, S. 551 mit Anm. 26 und S. 559 mit Anm. 49, sowie den Anderenortsverweis (unten S. 552 mit Anm. 33), der sich teilweise im Text „Umbildung des Charisma“ auflösen läßt.
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und seiner schöpferischen Macht, aber auch zum Problem [539]der Wahlen in modernen Massengebilden direkt an die Darlegungen des Textes „Umbildung des Charisma“ an. Vgl. unten, S. 559–562, und die entsprechenden Ausführungen im Text „Umbildung [539]des Charisma“, oben, S. 491, dass. auch schon im Text „Charismatismus“, oben, S. 469.
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Auf einen gemeinsamen Bearbeitungszusammenhang weist hier auch die spezifische Begriffsverwendung „Veralltäglichung des Charisma“ und „Erbcharisma“ hin. Vgl. unten, S. 558 f., und die entsprechenden Ausführungen im Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 482 und 498–506.
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Das Thema des „eingekapselten“ Monarchen verbindet den Text „Erhaltung des Charisma“ mit dem sich anschließenden Text „Staat und Hierokratie“ und stellt eine direkte Überleitung zwischen der Schluß- und Anfangspassage beider Texte her. Vgl. unten, S. 559, sowie den Editorischen Bericht zum Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 475.
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Vgl. unten, S. 561, sowie den Text „Staat und Hierokratie“, unten, S. 579 mit Anm. 1, sowie den dortigen Rückverweis, unten, S. 648 mit Anm. 73.
Durch die Verweisstruktur ist insbesondere der erste Teil des Textes „Erhaltung des Charisma“ in die ältere Eassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“ eingebunden. Eine Verbindung besteht vor allem zum Text „Politische Gemeinschaften“.
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Referenzen auf die „ständische Ehre“ und „Lebensführung“ setzen aber ebenso die Ausführungen des Textes „Feudalismus“ und noch viel stärker diejenigen des Textes „,Klassen‘, ,Stände‘ und ,Parteien‘“ als bekannt voraus. Vgl. den Rückverweis zu den Kriegervergeseilschaftungen, unten, S. 551 mit Anm. 26 und 32.
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– Dies mag ein Grund sein, weshalb die Erstherausgeber den hier edierten Text in einem direkten Zusammenhang mit dem letztgenannten Text angeordnet haben. – Ein Rückverweis aus der „Stadt“-Studie zum „Männerhaus“ läßt sich hingegen an vielen Stellen auflösen und ist damit kein eindeutiges Indiz für eine Einbindung des Textes „Erhaltung des Charisma“ in die ältere Fassung von „Wirtschaft und Gesellschaft“. Vgl. unten, S. 542 f., sowie den Text „Feudalismus“, oben, S. 446 f., und Weber, „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“, MWG I/22-1, S. 259–267.
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Auffällig ist, daß im hier vorliegenden Text Details verdoppelt werden, die sich bereits im Text „Umbildung des Charisma“ finden, so zur Behandlung des Kriegerkommunismus. Vgl. Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 180 mit Anm. 130, dort werden mehrere Referenzstellen angegeben, jedoch nicht die hier in Frage kommende Stelle, unten, S. 551.
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Da diese Stellen nicht über Verweise miteinander verbunden sind, es sich also offensichtlich nicht um beabsichtigte Wiederholungen handelt, muß man wohl von unterschiedlichen Bearbeitungsphasen und Formulierungsanläufen ausgehen, die abschließend nicht mehr abgeglichen worden sind. Vgl. unten, S. 551–553 und die Parallelausführungen im Text „Umbildung des Charisma“, oben, S. 486 f.
[540]Zur Überlieferung und Edition
Ein Manuskript ist nicht überliefert. Der Edition liegt der Text zugrunde, der erstmals in der postumen Ausgabe von Marianne Weber und Melchior Palyi als Kapitel V. des Dritten Teils unter dem Titel „Legitimität“, in: Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriß der Sozialökonomik, Abt. III, 4. Lieferung). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 642–649, erschienen ist (A).
Die Erstherausgeber druckten den Text unter dem Titel „Legitimität“ im Anfangsteil der „Herrschaftssoziologie“ zwischen den damals so genannten Kapiteln „Klasse, Stand, Parteien“ und „Bürokratie“ ab.
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Wie bereits ausgeführt, sprechen die textinterne Verweisstruktur, aber auch inhaltliche Gründe gegen die 1921 getroffene Anordnung. Aus der Erstausgabe übernommen wurde hingegen der gemeinsame Abdruck der beiden stark voneinander abweichenden Textteile. Während der erste Teil (unten, S. 542–558) als ein Exposé zur Rationalisierung der Kriegführung gelesen werden kann, scheint der zweite Teil (unten, S. 558–563) ein direktes Zwischenstück zwischen den Texten „Umbildung des Charisma“ und „Staat und Hierokratie“ zu bilden. Die inhaltliche Zäsur zwischen den beiden Textteilen des hier edierten Textes (unten, S. 558, Zeile 22) wurde durch eine Leerzeile gekennzeichnet. Fraglich ist, ob Max Weber beide Textpassagen als eine Einheit konzipiert hat oder ob sie lediglich in der Erstausgabe gemeinsam überliefert worden sind. Für die Übernahme der Textzuweisung der Erstausgabe sprach aber auch ein inhaltlicher Grund, da es sich bei den Ausführungen beider Textteile um Variationen zum Thema „Erhaltung charismatischer Elemente“ in traditional, besonders aber rational geprägten Strukturformen der Herrschaft handelt.[540] Vgl. WuG1, S. 631–641 (jetzt unter dem Titel „,Klassen‘, ,Stände‘ und ,Parteien‘“ in MWG I/22-1, S. 248–272, ediert) und WuG1, S. 650–672 (jetzt unter dem Titel „Bürokratismus“, oben, S. 157–234, ediert).
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Vgl. unten, S. 559 f.
Die Überschrift der Erstausgabe „Legitimität“ wurde nicht übernommen. Es gibt keinen zuverlässigen Hinweis, daß diese von Max Weber selber stammt. Marianne Weber führte die Überschrift erst am 25. März 1921 anläßlich der Übersendung der nachgelassenen Manuskripte zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ in der von ihr aufgestellten Kapitelübersicht an.
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Die in der Erstausgabe überlieferte Überschrift „Legitimität“ charakterisierte nur den Inhalt der letzten anderthalb „Grundriß“-Seiten des Textes [541]zur legitimitätsstiftenden Funktion des Charisma (unten, S. 558, Zeile 23–S. 563) und nicht die wesentlich umfangreichen Darlegungen des ersten Teils zum Verhältnis von individuellem Charisma und rationaler Disziplin (unten, S. 542–558, Zeile 21). Der Editor wählte daher – in Anlehnung an eine Textaussage – die Überschrift „Erhaltung des Charisma“. Dieser neue Titel steht in eckigen Klammern. Vgl. Weber, Marianne, Auflistung des Manuskriptbestands vom 25. März 1921, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446; dort wird der Titel „Umbildung des Charisma“ an 12. Stelle aufgeführt.
Emendiert und in den textkritischen Apparat gestellt wurden die offensichtlichen Zusätze der Erstherausgeber, wie die eingefügte Inhalts- und Seitenübersicht
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und der Zusatzhinweis auf die Ausführungen der ersten Lieferung.[541] Vgl. unten. S. 542, textkritische Anm. a.
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Emendiert wurden auch Verschreibungen, wie „opera servilia“ (statt „servitia“), Vgl. unten, S. 542, textkritische Anm. b, sowie Zur Edition dieses Bandes, oben, S. 110 f. mit Anm. 77.
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„liparische“ (statt „ligurische“) „Seeräubergemeinwesen“, Vgl. unten, S. 548, textkritische Anm. d.
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„Areoi“ (statt „Ariloi“) Vgl. unten, S. 551, textkritische Anm. f.
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oder „Beute“ (statt „Bauten“), Vgl. unten, S. 552, textkritische Anm. g.
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die vermutlich auf Lesefehler des Setzers bzw. der Erstherausgeber zurückzuführen sind. Vgl. unten, S. 553, textkritische Anm. h.